[Portrait] Zwischen DNA und Datenpannen – Anne Wojcicki & der Traum vom gläsernen Ich

[Portrait] Zwischen DNA und Datenpannen – Anne Wojcicki & der Traum vom gläsernen Ich

Genetisches Wissen für jedermann: Die Geschäftsidee von Anne Wojcicki hatte viel Potential.

(Bild: Redaktion/ChatGPT 4o)

Es begann mit einem Speichelröhrchen. Kein Blut, keine Klinik, keine weiße Wand aus Fachbegriffen – nur ein einfacher Test, den man zu Hause durchführen konnte. Anne Wojcicki wollte nichts Geringeres als die Revolution des Gesundheitswesens. Statt reaktiver Medizin: präventive Aufklärung. Statt blinder Diagnosen: genetisches Wissen auf Knopfdruck. Doch was einst als große Vision begann, ist heute ein Lehrstück über Tech-Idealismus, Geschäftsrisiken – und die Fallstricke der Datengesellschaft.

Aufgewachsen in einer Art Think Tank

Anne Wojcicki, Jahrgang 1973, stammt aus einem intellektuellen Biotop im kalifornischen Palo Alto. Ihr Vater, Physikprofessor bei Stanford, ihre Mutter Bildungsaktivistin – und mittendrin in diesem häuslichen Thinktank eine Tochter, die früh lernte, dass Wissenschaft kein Elfenbeinturm sein muss, sondern Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel. Nach dem Biologiestudium in Yale verschlug es Wojcicki zunächst an die Wall Street, wo sie Biotech-Firmen analysierte – und mit wachsendem Frust sah, wie weit die Interessen von Industrie und Patienten oft auseinanderlagen. Sie stieg aus. Und begann, neu zu denken.

Gentechnik im Direktverkauf als Hit

2006 gründete sie mit zwei Genetikern 23andMe, benannt nach den 23 Chromosomenpaaren des Menschen. Die Idee: Genanalysen direkt an Endverbraucher verkaufen – also an Menschen, die mehr über ihre Herkunft, ihre Krankheitsrisiken oder ihre Medikamentenverträglichkeit wissen wollten. Was für viele wie Science-Fiction klang, wurde dank Wojcickis Überzeugungskraft Realität. Früh flossen Millionen – auch von Google, wo ihre Schwester Susan als spätere YouTube-Chefin längst Karriere machte. Anne selbst war zu dieser Zeit mit Google-Mitgründer Sergey Brin verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat. Das Valley war ein Dorf – und Wojcicki eine seiner glänzendsten Figuren.

Lange Zeit ein Role-Model für MINT-Berufe

Lange galt sie als Role Model für Frauen in MINT-Berufen: Wissenschaftlich versiert, wirtschaftlich erfolgreich, mit einer Mission, die weit über Profit hinausging. Die Medien stilisierten sie zur Gen-Göttin, zur Visionärin mit Herz und Harvard-Siegel. Doch der steile Aufstieg sollte nicht ohne Turbulenzen bleiben.

Schon 2013 geriet 23andMe ins Visier der US-Gesundheitsbehörde FDA – wegen mangelnder Zulassungen für medizinische Aussagen. Das Unternehmen passte sich an, kämpfte sich zurück. Der größte Rückschlag kam Anfang 2025: 23andMe meldete Insolvenz an. Der Hype war vorbei, das Geschäftsmodell ausgereizt, Investoren sprangen ab. Ein Grund dafür waren diverse Datenschutz-Skandale der letzten Jahre, darunter ein spektakulärer Hack, bei dem sensible Informationen Hunderttausender Nutzer:innen in falsche Hände gerieten. Der Traum vom „gläsernen Ich“ hatte Risse bekommen – und Wojcickis Ruf gleich mit.

Zwischen Fortschritt und Fahrlässigkeit

Heute ist Anne Wojcicki nicht mehr das unangefochtene Vorbild, als das sie einst gefeiert wurde. Kritiker werfen ihr vor, die Risiken von Gen- und Gesundheitsdaten zu unterschätzt zu haben. Ihre Geschichte zeigt, wie schmal der Grat sein kann zwischen Fortschritt und Fahrlässigkeit, zwischen Aufklärung und Ausverkauf. Und doch bleibt sie eine Figur, an der sich Debatten reiben – über medizinische Selbstbestimmung, über Tech-Ethik und darüber, wem unsere intimsten Informationen eigentlich gehören sollten. Denn immerhin: Anne Wojcicki hat der Welt gezeigt, was möglich ist, wenn Biologie auf Silicon Valley trifft. Nur hat sie dabei vielleicht unterschätzt, dass auch die beste DNA nicht vor den Schwächen menschlicher Systeme schützt.

Über den Autor / die Autorin

Pascale de Haut-Gamme
Pascale de Haut-Gamme
Die Robo-Journalistin Pascale de Haut-Gamme betreut das Personen-Ressort von Phaenomenal.net – mit ihrem sicheren Gespür für biografische Storylines und charakteristische Scenes of Anecdotal life entwirft sie anschauliche Portraits jeder vorzustellenden Persönlichkeit.

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