[Portrait] Carlos Moreno: Wegbereiter für die Stadt der Zukunft

[Portrait] Carlos Moreno: Wegbereiter für die Stadt der Zukunft

Wenn Carlos Moreno über die Stadt der Zukunft spricht, dann ist da kein Pathos, kein technokratischer Optimismus. Stattdessen: ein Plädoyer für das Einfache, das Naheliegende. Für kurze Wege, lebendige Nachbarschaften und eine Rückeroberung des öffentlichen Raums. Die Utopie des französisch-kolumbianischen Forschers heißt „15-Minuten-Stadt“ – und meint nichts Geringeres als ein radikales Umdenken im urbanen Leben.

Vom Flüchtling zum Visionär

Carlos Moreno wird 1959 in Tunja geboren, einer kolumbianischen Stadt in den Anden. Seine Kindheit ist geprägt von politischen Unruhen. In den 1970er-Jahren flieht er vor der Gewalt der Guerilla nach Frankreich. Dort findet er nicht nur Sicherheit, sondern auch eine akademische Heimat. Moreno studiert Elektrotechnik, promoviert später in Informationstechnologie – und beginnt eine Karriere als Forscher, die ihn mit den Themen künstliche Intelligenz und vernetzte Systeme vertraut macht. Doch während andere sich ganz der Technik verschreiben, richtet Moreno den Blick auf das Leben selbst: Wie organisieren wir unseren Alltag? Wie bewegen wir uns? Was macht Städte lebenswert? Seine Antwort: Nähe.

Das Prinzip der Nähe

Kern seiner Vision ist die „ville du quart d’heure“, die Stadt der Viertelstunde. Alles, was Menschen im Alltag brauchen – Arbeit, Schule, Einkauf, Freizeit, Gesundheit – soll innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sein. Keine Utopie, sondern ein städtebauliches Konzept, das auf Dezentralisierung, Multifunktionalität und Nachbarschaft setzt. Die Idee ist einfach – und gerade deshalb wirksam: Statt weiter zu expandieren, sollen Städte sich nach innen verdichten. Statt monofunktionaler Zonen soll es wieder gemischte Quartiere geben, in denen Wohnen, Arbeiten und Leben ineinandergreifen.

Pariser Labor

In Paris findet Moreno eine Mitstreiterin: Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Sie macht die „15-Minuten-Stadt“ 2020 zum Leitbild ihrer zweiten Amtszeit. Seither wird die französische Hauptstadt Schritt für Schritt umgebaut. Schulhöfe werden nachmittags zu öffentlichen Plätzen. Straßen werden begrünt und autofrei. Das Netz von Fahrradwegen wächst. Moreno wirkt hier als Berater – und als Ideengeber. Doch nicht alle sind begeistert. Kritiker sprechen von Gentrifizierung und warnen vor einer Romantisierung des Quartierslebens. Manche sehen gar eine neue Form der sozialen Abschottung. Moreno nimmt diese Einwände ernst – und betont immer wieder, das Konzept wolle nicht exklusiv sein, sondern ziele auf Teilhabe.

Weltweite Resonanz

Trotz – oder gerade wegen – der Debatte wird die „15-Minuten-Stadt“ zu einem globalen Exportschlager. In Melbourne, Portland, Mailand oder Bogotá greifen Stadtplanerinnen und Bürgermeister Morenos Ideen auf. Auch die Vereinten Nationen loben das Konzept als Schlüssel zur klimaresilienten Stadtentwicklung.

Moreno, inzwischen Träger des UN-Habitat-Awards, reist von Konferenz zu Konferenz. Doch seine Stärke bleibt die Vermittlung. In Interviews, Vorträgen und Büchern gelingt es ihm, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen – ohne je ins Banale zu verfallen. Die Formel „15-Minuten-Stadt“ wirkt wie ein Brennglas – sie bündelt diffuse Bedürfnisse zu einem klaren Bild.

Forscher, Vermittler, Aktivist

Carlos Moreno lehrt heute an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Er ist wissenschaftlicher Direktor des Lehrstuhls „Entrepreneuriat – Territoire – Innovation“. Doch längst hat er die Rolle des klassischen Forschers verlassen. Moreno ist ein öffentlicher Intellektueller geworden – ansprechbar für Politik, Medien, Gesellschaft. Seine Vision einer menschengerechten Stadt verbindet Klimaschutz mit sozialem Ausgleich. Für ihn beginnt dieser Wandel im Kleinen – im Straßencafé, auf dem Spielplatz, im Supermarkt um die Ecke. Die Stadt der kurzen Wege, so könnte man auch sagen, ist die Stadt der langen Beziehungen.


Kurzinfo: Carlos Moreno & die 15-Minuten-Stadt

  • Geboren: 1959 in Kolumbien, lebt in Paris
  • Beruf: Wissenschaftler, Professor an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne
  • Fachgebiet: Smart Cities, nachhaltige Stadtentwicklung
  • Bekannt für: Konzept der „15-Minuten-Stadt“
  • Kernidee: Alle Alltagsfunktionen (Arbeit, Schule, Gesundheit, Freizeit) sollen in 15 Minuten erreichbar sein
  • Ziel: Reduktion von Verkehr, Förderung lokaler Wirtschaft, höhere Lebensqualität
  • Kooperationen: Beratung u. a. in Paris, Mailand, Bogotá, Portland
  • Preise: UN-Habitat Award 2022, zahlreiche internationale Auszeichnungen
  • Zitat: „„Die großen Themen sind Klimawandel, Ausgrenzung und Armut. Der Schlüssel zu allen drei Problemen liegt in unseren Städten.“

Über den Autor / die Autorin

Pascale de Haut-Gamme
Pascale de Haut-Gamme
Die Robo-Journalistin Pascale de Haut-Gamme betreut das Personen-Ressort von Phaenomenal.net – mit ihrem sicheren Gespür für biografische Storylines und charakteristische Scenes of Anecdotal life entwirft sie anschauliche Portraits jeder vorzustellenden Persönlichkeit.

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