Nicht nur das Klima selbst hat eine Geschichte – auch unsere Vorstellung vom Klima hat sich in den letzten Jahrhunderten stark verändert: es wurde vom Kulturphänomen zum wissenschaftlichen Begriff. Doch zugleich bleibt es auch für jeden von uns konkret und erfahrbar.
(Bild: Coverdetail/Fischer Verlag)
Man kann es nicht sehen, nicht anfassen, nicht besitzen – und doch bestimmt es unser Leben wie kaum etwas anderes: das Klima. In Zeiten der Erderhitzung, der Dürresommer und Extremwetterlagen scheint es allgegenwärtig und zugleich abstrakt. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn nähert sich diesem unsichtbaren Machtfaktor nun auf ungewohnte Weise: als Kulturphänomen, als Sinnesraum, als Geschichte menschlicher Imagination. Ihr Buch Klima ist keine Klima-Physik, sondern eine Atmosphärenkunde für Geist und Gesellschaft – vielschichtig, bildreich und politisch klug.
Klima als kollektive Erfahrung
Bevor das Klima zu einem wissenschaftlich definierten Durchschnittswert wurde – gemessen über 30 Jahre, auf Millimeter und Grad genau –, war es vor allem eines: gelebte Erfahrung. Die Luft, die einen umgab, war wärmer oder feuchter, träge oder belebend, feindlich oder heilsam. Klima war ein Milieu, ein Charakterzug der Landschaft – und zugleich ein Spiegel des Menschen.
Eva Horn ruft dieses alte Wissen in Erinnerung. Sie zeigt, wie stark frühere Kulturen ihr Denken, ihre Medizin, ja sogar ihre Moral mit klimatischen Einflüssen verknüpften. Der warme Süden galt als üppig und lebensfroh, der kühle Norden als nüchtern und arbeitsam – bis hin zu politischen Zuschreibungen.
Zwischen Luftmeer und Klimamaschine
Horn führt ihre Leser durch eine dichte Gedankenwelt: von antiken Lüftelehren über Aufklärungsfantasien kontrollierter Atmosphäre bis zur modernen Klimaforschung. Besonders eindrücklich beschreibt sie die Metapher des „Luftmeers“, das den Menschen nicht nur umgibt, sondern durchdringt – als ein Medium des Fühlens und Denkens.
Mit wissenschaftsgeschichtlichem Gespür und essayistischer Eleganz seziert Horn die Idee, das Klima technisch beherrschen zu können. Der Mensch, so wird deutlich, hat das Klima nie nur gemessen, sondern stets auch imaginiert – als Bedrohung, als Ordnungsprinzip, als Spiegel der eigenen Zivilisation.
Ein anderes Sensorium
Was Horn vorschlägt, ist eine Rückgewinnung unseres „atmosphärischen Sensoriums“. Das bedeutet: Das Klima nicht nur als abstrakten Wert zu denken, sondern als sinnliche und soziale Wirklichkeit ernst zu nehmen. Ihre Analysen reichen von Goethes Wetteraufzeichnungen über Turner’sche Nebelbilder bis hin zur Klimakunst der Gegenwart.
Immer wieder gelingt ihr dabei das Kunststück, scheinbar Verstaubtes ins Licht aktueller Debatten zu rücken. Denn wer das Klima nur als CO₂-Kurve versteht, verliert den Blick für das, was auf dem Spiel steht: nicht nur unser Überleben, sondern unser Weltverhältnis.
Kritik als Klimapolitik
Horn, die 2020 mit dem Heinrich-Mann-Preis für politisches Essay-Schreiben ausgezeichnet wurde, verbindet Theorie mit Haltung. Ihr Buch ist kein flammendes Manifest – aber ein leiser, insistierender Einspruch gegen eine technokratische Klimadebatte, die das Sinnliche, Kulturelle und Menschliche ausblendet. Dabei schlägt sie keinen Alarm, sondern öffnet Horizonte: für eine neue Klimaethik, für ein Denken in Übergängen, für ein Bewusstsein, das die Atmosphäre nicht nur misst, sondern bewohnt. Wer Klima liest, blickt anders in den Himmel – und erkennt, wie tief die Luft, die wir atmen, mit Geschichte, Politik und Wahrnehmung verwoben ist.
Eine poetische Einladung zur Selbstverortung
Eva Horn hat ein Buch geschrieben, das nicht auf Zahlen und Grafiken zielt, sondern auf unsere Vorstellungskraft. Ihre Imaginationsgeschichte des Klimas ist keine Alternative zur Wissenschaft – sondern ein Angebot zur Ergänzung.
In einer Zeit, in der Klimawandel oft als technisches oder ökonomisches Problem verhandelt wird, erinnert sie daran, dass Klima immer auch kulturelles Wissen ist – und dass jede Debatte darüber auch eine über Weltbilder, Machtverhältnisse und Lebensformen sein muss.
![]() | Eva Horn, Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte erschienen: 30.10.2024 S. Fischer Verlag, 616 Seiten, 34,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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