Aus privater Perspektive sind Gefühle scheinbar banal und flüchtig, im gesellschaftlichen Rahmen jedoch können sie zum gesellschaftlichen Sprengstoff werden.
(Bild: Cover/Suhrkamp Verlag)
Es sind nicht die Fakten allein, die unsere Zeit in Aufruhr versetzen. Es sind die Gefühle – Angst, Wut, Enttäuschung –, die wie unsichtbare Funken an der Oberfläche unserer Gesellschaft knistern. Die israelische Soziologin Eva Illouz, bekannt für ihre scharfsinnigen Analysen an der Schnittstelle von Emotion und Gesellschaft, hat in ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ genau diese brisante Gemengelage ins Zentrum gerückt.
Gefühle als gesellschaftlicher Sprengstoff
Illouz betrachtet Gefühle nicht als private Regungen, sondern als politische Kräfte. In „Explosive Moderne“ zeigt sie, wie Emotionen gezielt genutzt werden: von der Wirtschaft, der Politik, den Medien. Angst wird geschürt, Wut kanalisiert, Enttäuschung in Identitätspolitik umgelenkt. Der emotionale Kapitalismus, den Illouz bereits in früheren Werken beschrieb, erlebt hier eine dramatische Aktualisierung.
Vom amerikanischen Traum zum globalen Frust
Ein besonders eindrucksvolles Kapitel widmet sich dem Verblassen des amerikanischen Traums. Einst ein Versprechen grenzenloser Möglichkeiten, ist er für viele zur Quelle chronischer Frustration geworden. Illouz beleuchtet, wie diese Enttäuschung nicht nur wirtschaftliche Ursachen hat, sondern tief in die emotionale Struktur unserer Gesellschaft eingraviert ist. Es ist eine Spirale der Entfremdung, die populistischen Bewegungen Nahrung gibt.
Emotionen als Machtinstrument
In ihren soziologischen Miniaturen und literarischen Lektüren – von Marx bis Morrison – macht Illouz sichtbar, wie Macht durch die Steuerung von Gefühlen ausgeübt wird. Wer Ängste weckt oder Wut mobilisiert, formt die politische Landschaft. Dabei sind Emotionen hochgradig ambivalent: Sie können sowohl Widerstand hervorrufen als auch Regression befeuern.
Scham und die Fragilität der Demokratie
Illouz vernachlässigt nicht die stilleren, subtileren Gefühle. Scham etwa – ein oft übersehenes, aber zentrales Gefühl unserer Zeit – wird als treibende Kraft hinter Identitätsdebatten und politischen Polarisierungen erkannt. Gerade weil liberale Demokratien von Inklusion leben, sind sie besonders anfällig für emotionale Verletzungen, die sich in kollektive Empörung verwandeln können.
Eine Soziologie der Hochspannung
„Explosive Moderne“ ist kein Buch für jene, die in einfachen Erklärungen Trost suchen. Illouz’ Stil ist analytisch klar, dabei aber literarisch elegant. Ihre Fähigkeit, große gesellschaftliche Fragen durch die Linse der Emotionen zu beleuchten, macht dieses Buch zu einer packenden Lektüre. Wer verstehen will, warum unsere Gegenwart so aufgeladen ist, findet hier keine fertigen Antworten – aber kluge Einsichten und Denkanstöße.
![]() | Eva Illouz, Explosive Moderne aus dem Englischen von Michel Adrian Suhrkamp Verlag ersch.: April 2024 416 S., 28 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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