Unsere kapitalistische Wirtschaft basiert auf Exklusivität und Mangel – die Natur dagegen überrascht uns immer wieder mit ihrer Fülle, die allen offen steht. Auf diesem Gedanken baut Robin Wall Kimmerer die Idee einer neuen, ökologischen Ökonomie auf, in der die Qualität der Beziehungen zwischen Menschen, Tieren und der Pflanzen wichtiger sind als in nüchternen Zahlen ausgedrückte Profite.
(Bild: Coverdetail/Penguin Verlag)
Wer je in Nordamerika im Frühsommer unterwegs war, könnte ihr begegnet sein: der Serviceberry, zu deutsch: Felsenbirne. Ein zarter Baum mit weißen Blüten im Frühjahr und dunkelvioletten, süßen Beeren im Sommer – für Vögel, Waschbären, Menschen. Für Robin Wall Kimmerer ist dieses Gehölz mehr als ein Naturphänomen. In ihrem poetisch-philosophischen Essay The Serviceberry. Abundance and Reciprocity in the Natural World wird es zur Metapher für eine andere Art zu leben. Die Felsenbirne gibt, ohne zu zählen – und verkörpert damit eine radikal andere Ökonomie: eine, die auf Beziehung statt Besitz basiert.
Gegenseitigkeit statt Konkurrenz
Kimmerer, Botanikerin, Professorin für Umweltbiologie und Angehörige der Citizen Potawatomi Nation, bringt in ihrem Werk zwei Wissenssysteme zusammen: die westlich-naturwissenschaftliche Sicht auf Pflanzenökologie und das indigene Denken in Kreisläufen, Gaben und gegenseitiger Verantwortung. Der Serviceberry-Baum, so argumentiert sie, zeigt uns ein ökonomisches Prinzip, das dem vorherrschenden Kapitalismus widerspricht. Während unsere Wirtschaft auf Knappheit, Eigentum und individuellem Vorteil basiert, funktioniert das Ökosystem der Felsenbirne nach dem Prinzip der Gabe.
„Die Felsenbirne führt uns ein anderes Modell vor„, schreibt sie. „Eine Lebensweise, bei der Wohlstand auf der Qualität unserer Beziehungen beruht, und nicht auf der Illusion, wir seien uns selbst genug.“ Der Baum verschenkt seine Früchte großzügig – an Tiere, an Menschen, an die Erde selbst. Und sichert sich so, durch diese Gemeinschaft, seine eigene Zukunft.
Wissen aus der Erde
Robin Wall Kimmerer ist bekannt für ihre Fähigkeit, komplexe ökologische Zusammenhänge in erzählerischer Sprache zu vermitteln. Bereits in ihrem Bestseller Braiding Sweetgrass verband sie wissenschaftliche Erkenntnisse mit spirituellen Lehren und persönlichen Erfahrungen. Auch in The Serviceberry gelingt ihr dieser Brückenschlag – diesmal in konzentrierter Form: Auf nur 128 Seiten entwickelt sie ein ökologisches und ökonomisches Gegenmodell zur kapitalistischen Moderne.
Ihre zentrale Botschaft: Reichtum ist nicht das, was wir besitzen, sondern das, was wir weitergeben. Indigene Gesellschaften, so Kimmerer, haben dieses Prinzip tief verankert: Wissen, Nahrung, Land – alles ist eingebettet in Beziehungen und Verantwortung. Wer empfängt, gibt zurück – nicht unbedingt an denselben Menschen, aber an das größere Ganze.
Ein leiser, politischer Text
Trotz – oder gerade wegen – seines leisen Tons ist The Serviceberry ein politischer Text. Kimmerer klagt nicht laut an, sondern lädt ein zum Innehalten. Ihre Sprache ist ruhig, poetisch, bildhaft. Statt Schlagwörter bietet sie Bilder: eine Hand, die eine Beere pflückt; ein Vogel, der sie weiterträgt; ein Baum, der jedes Jahr aufs Neue blüht.
Dabei ist der Essay alles andere als weltfern. Kimmerer verbindet die Naturbeobachtung mit scharfer Analyse: Unser Wirtschaftssystem, so schreibt sie, sei nicht nur ungerecht, sondern auch unklug – weil es das zerstört, wovon es abhängt: funktionierende Ökosysteme, soziale Netze, lebendige Beziehungen. Sie stellt dem die Vision einer „Economy of Abundance“ entgegen, die auf Vertrauen, Vielfalt und Gegenseitigkeit basiert.
Geben als Praxis – auch jenseits der Buchseiten
Konsequent ist auch Kimmerers eigener Umgang mit dem Buch. Die Einnahmen, die sie als Vorschuss von Penguin Books erhält, spendet sie vollständig an Projekte zur Wiederherstellung indigener Ökosysteme. „A reciprocal gift, back to the land“ – ein Geschenk zurück an das Land, das sie ernährt und inspiriert hat.
Was wie eine kleine Geste wirken mag, ist im Kontext ihrer Philosophie ein politisches Statement: Die Praxis des Gebens beginnt nicht in der Theorie, sondern im Alltag. In den Entscheidungen, wie wir leben, was wir weitergeben, wem wir zuhören.
![]() | Robin Wall Kimmerer: The Serviceberry. Abundance and Reciprocity in the Natural World Penguin Books, erschienen am 19. November 2024 Taschenbuch, 128 Seiten Preis: 14,99 Euro (Deutschland) |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
Letzte Beiträge
Buchtipp9. Juli 2025[Buchtipp] Über Beeren, Beziehungen und das gute Leben
Buchtipp3. Juli 2025[Buchtipp] Alles im Fluss
Buchtipp1. Juli 2025[Buchtipp] Jenseits der Ohnmacht
Buchtipp30. Juni 2025[Buchtipp] Prophet der Paranoia
Schreibe einen Kommentar