[Buchtipp] Globale Reibungspunkte

[Buchtipp] Globale Reibungspunkte

In „Friktionen“ verbindet Anna Lowenhaupt Tsing am Beispiel Borneo Ethnografie, Reportage und Theorie zu einem vielstimmigen Porträt eines Ortes, an dem Weltmärkte, Machtinteressen und Widerstand aufeinanderprallen.

(Bild: Coverdetail)


Von wegen Waldesruh: Selbst an den Hängen des abgelegenen Meratusgebirges im Süden von Borneo sind die Geräusche der Globalisierung gut vernehmbar – in Form von Motorsägen. In Friktionen folgt die US-Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing den Spuren der weltweiten Transformationsprozesse bis tief hinein in die tropischen Wälder der zum malaischen Archipel gehörenden Insel. Ihr Buch ist ein vielstimmiges Protokoll jener Spannungen, die die Welt zusammenhalten – und zugleich verändern.

Feldforschung unter Spannung

Tsing nimmt ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise zu einem Ort, der exemplarisch steht für die konfliktreiche Verflechtung von Ökologie, Ökonomie und Politik. Seit den 1970er Jahren wird im Süden Borneos systematisch gerodet. Holz und Bodenschätze werden verkauft, um internationale Schulden zu tilgen oder um Einzelne reich zu machen. Doch Tsing dokumentiert nicht nur Ausbeutung, sondern auch Widerspruch. In dichten, reportageartigen Passagen zeigt sie, wie lokale Gemeinschaften, NGOs, Umweltaktivistinnen und Wissenschaftler Allianzen schmieden – oft brüchig, aber wirksam.

Zwischen Reportage und Theorie

Tsing wechselt dabei souverän zwischen Erzählformen. Mal ist sie Beobachterin, fast literarisch im Ton, wenn sie das Aufeinandertreffen von Akteuren beschreibt. Dann wieder greift sie zur kulturtheoretischen Linse, reflektiert Begriffe wie „Skalierung“, „Verflechtung“ oder „Aneignung“. Sie zeigt, dass Globalisierung kein linearer Prozess ist, sondern eine Summe vieler kleiner Bewegungen – voller Missverständnisse, Interessen, unvollständiger Übersetzungen. Es knirscht im Getriebe der weltweiten Austauschprozesse. Und genau darin, in diesen Reibungen, liegt für Tsing das Politische.

Der Wald als Bühne globaler Macht

Zentral ist dabei der Wald selbst. Er ist nicht nur Ressource, sondern auch Bühne und Akteur. Wenn multinationale Firmen Straßen durch das Dickicht schlagen, wenn Kartierungen Grenzen ziehen, wo früher keine waren, wird sichtbar, wie Landschaft politisiert wird. Gleichzeitig wandelt der Wald zum Ort für neue soziale Beziehungen. Tsing beschreibt, wie sich indigene Dorfbewohnerinnen mit NGO-Mitarbeitern aus Jakarta zusammentun, wie Karten gemeinsam gezeichnet und Begriffe wie „Tradition“ oder „Natur“ neu verhandelt werden.

Friktionen als Erkenntnisraum

Das Besondere an Tsings Ansatz: Sie sucht nicht nach Lösungen, sondern nach Verständnishorizonten. Friktionen – also Reibungen, Spannungen, Unübersetzbarkeiten – sind für sie keine Störung, sondern Voraussetzung für Wandel. Sie sind das, was Gesellschaften dynamisch hält. Ihre Ethnografie ist daher kein Lehrbuch der Entwicklungshilfe, sondern ein Denkraum: Was passiert, wenn globalisierte Vorstellungen auf lokale Lebensrealitäten treffen? Wie entstehen aus Differenz neue soziale Formen – monströs oder zukunftsfähig?

Ein Buch, das zum Innehalten aufruft

Tsing gelingt es, die scheinbar abstrakte Logik der Globalisierung zu erden – in Geschichten, Begegnungen, Landschaften. Ihr Buch ist anspruchsvoll, aber lohnend. Es fordert die Leserinnen und Leser heraus, Komplexität auszuhalten und nicht vorschnell zu urteilen. In einer Welt, in der sich der Ruf nach „einfachen Lösungen“ immer lauter Bahn bricht, ist das ein wertvoller Gegenentwurf.

Friktionen ist damit mehr als ein Buch über Borneo. Es ist ein Buch über uns – darüber, wie wir mit der Welt in Beziehung treten, wo wir wegscheuen, wo wir eingreifen und wie wir Verantwortung denken können. Es zeigt, dass die Zukunft nicht aus einem Guss sein muss – sondern vielleicht gerade dort entsteht, wo sich die Gegensätze aneinander reiben.


CoverAnna Lowenhaupt Tsing,
Friktionen
Eine Ethnografie globaler Verflechtungen
,
ersch. 2025,
aus dem Englischen von Dirk Höfer,
Matthes & Seitz,
479 Seiten, 38,00 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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