Zu den Eigenheiten des Autors, Musikers und Grafikers Johan Harstad gehört, dass er die Cover seiner Bücher selbst entwirft – so auch das schwarze Quadrat für den aktuellen Band.
(Bild: Buchcover/Claassen Verlag)
Man stelle sich vor: Ein Stein, der einem für sieben Minuten die eigene Zukunft offenbart – nicht als bloße Ahnung, sondern als lebendige, fühlbare Wirklichkeit. Dieser Stein steht im Zentrum von Johan Harstads gewaltigem Roman Unter dem Pflaster liegt der Strand. Doch wer an Science-Fiction im klassischen Sinne denkt, liegt daneben. Denn der norwegische Autor nutzt die fantastische Idee nicht als technisches Gimmick, sondern als erzählerischen Resonanzraum. Was passiert, wenn man sieht, wohin das Leben führt? Was, wenn die Zukunft einem nicht die Freiheit, sondern das Gewicht der Entscheidung nimmt?
Vergangene Freundschaften, unausgesprochene Wahrheiten
Der mysteriöse Stein bringt Erinnerungen zum Schwingen – vor allem bei Ingmar Olsen, einem norwegischen Physiker, der in Warschau an einer Konferenz über Atommüll teilnimmt. Dort wird er von einem unbekannten Amerikaner auf seine Jugendzeit in Norwegen angesprochen – auf eine Weise, die beunruhigend vertraut wirkt. Kurz darauf ruft ein alter Jugendfreund an: Jonatan, verschwunden seit zwanzig Jahren, meldet sich von einem Containerschiff. Beides bringt Ingmar ins Wanken. Wie ein Riss im Fundament legt es Vergessenes frei: die Clique von damals, gemeinsame Ideale – und Ebba, die einzige Frau in der Runde, an der Ingmars Herz bis heute hängt.
Erinnerung als Baustelle
Was diese Gruppe einmal verbunden hat, lässt sich kaum noch rekonstruieren. Doch Harstad versucht es – mit großer erzählerischer Geduld und einem Gespür für Zwischentöne. Der Roman springt durch die Jahrzehnte, tastet sich vor und zurück, folgt Erinnerungen, Gesprächen, inneren Monologen. Wie auf einer Ausgrabungsschicht wird das Leben des Protagonisten freigelegt, Schicht um Schicht. Der Titel verweist auf einen bekannten Slogan der 68er-Bewegung: „Sous les pavés, la plage“ – unter dem Pflaster liegt der Strand. Harstad fragt: Was liegt unter unserer Biografie, unter unserer Moral, unter unseren Entscheidungen?
Zwischen Wissenschaft und Wunden
Dass Ingmar als Physiker arbeitet, ist kein Zufall. Der Atommüll, um den es auf der Konferenz geht, ist ein sprechendes Symbol: für das, was bleibt, obwohl wir es loswerden wollen. Für das, was unterirdisch weiterstrahlt – über Generationen. So durchdringen sich in diesem Roman naturwissenschaftliche, emotionale und politische Ebenen auf subtile Weise. Der Stein, der die Zukunft zeigt, ist eine andere Form von Atommüll: hochreaktiv, kaum kontrollierbar, zutiefst menschlich.
Ein Roman als Lebensarchiv
Johan Harstad, geboren 1979, ist einer der eigenwilligsten Erzähler Norwegens. Seine Werke sind oft lang, vielschichtig, herausfordernd. Auch Unter dem Pflaster liegt der Strand macht keine Kompromisse: 1.152 Seiten, fragmentarisch, assoziativ, intellektuell. Es ist ein Roman, der seine Leserinnen und Leser fordert – aber gerade deshalb in Erinnerung bleibt. Nicht weil er laut wäre, sondern weil er nachhallt. Weil er die großen Fragen stellt, ohne einfache Antworten zu geben: Was ist ein gelebtes Leben wert? Und wie sehr hängt unser Morgen vom Gestern ab?
![]() | Johan Harstad, Unter dem Pflaster liegt der Strand Verlag Claassen ersch. 30. Januar 2025 1.152 Seiten, 36,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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