Statt zu lernen, die Bombe zu lieben, sollten wir vielleicht lieber Schluss machen mit dieser Bedrohung, empfiehlt uns Mark Lynas.
(Bild: Buchcover/Bloomsbury Verlag)
Mitten im Lärm der Krisen unserer Zeit – Extremwetter, Fluchtbewegungen, Pandemien – gibt es eine Bedrohung, die kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit erfährt: den Atomkrieg. Zwölftausend Sprengköpfe, verteilt auf ein gutes halbes Dutzend Staaten. Reaktionszeiten im Minutentakt. Wachsende geopolitische Spannungen. In seinem neuen Buch Six Minutes to Winter zeigt der britische Autor und Umweltaktivist Mark Lynas, wie knapp die Welt vor einem nuklearen Abgrund steht – und wie wenig darüber gesprochen wird.
Der Schatten des Atomzeitalters ist zurück
Lange galt die nukleare Bedrohung als Phantom der Vergangenheit – ein Relikt des Kalten Kriegs, verbannt in Archive und Historien-Dokumentationen. Doch Lynas zeigt, wie trügerisch diese Sicherheit ist. In Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen – zwischen den USA, Russland, China, aber auch Indien und Pakistan – rückt das Undenkbare wieder in den Bereich des Möglichen. Die Welt, so schreibt er, sei „näher am Atomkrieg als seit der Kubakrise 1962„. Er erinnert an Vorfälle wie den sowjetischen Beinahe-Fehlalarm von 1983, als ein einzelner sowjetischer Offizier den Atomkrieg verhinderte – allein durch seine Entscheidung, den Alarm nicht weiterzugeben. Es sind diese historischen Bruchstellen, die zeigen: Der Abgrund ist nicht weit. Und er war es nie.
Klimakrise versus Atomkrieg
Lynas, bekannt als engagierter Umweltaktivist und Mitautor der „Planetary Boundaries“, macht keinen Hehl daraus: Die Klimakrise bedroht die Menschheit – aber nukleare Vernichtung ist schneller. Während Erderwärmung über Jahrzehnte wirkt, würde ein Atomkrieg binnen Stunden alles verändern.
„Ein großflächiger Raketenangriff würde Monate fast völliger Dunkelheit bedeuten, gefolgt von einem jahrzehntelangen nuklearen Winter, der den größten Teil des Lebens auf der Erde vernichten würde“, warnt Lynas. Die daraus resultierende globale Hungersnot würde selbst jene Länder treffen, die geografisch weit entfernt vom Konflikt liegen.
Dabei entlarvt er auch die Trägheit politischer Debatten: Kein COP-Gipfel, keine Fridays-for-Future-Bewegung für Abrüstung. Atomwaffen, so scheint es, haben ihre mediale Präsenz verloren – dabei sind sie nie verschwunden.
Die Logik der Abschreckung wankt
Lynas durchleuchtet nicht nur die technischen Hintergründe nuklearer Eskalation, sondern auch die psychologischen und strategischen Trugschlüsse. Abschreckung, so argumentiert er, funktioniert nur solange, wie alle Systeme fehlerfrei arbeiten. Doch die Realität sei eine andere: Frühwarnsysteme versagen, Befehlsketten sind überlastet, politische Entscheider handeln unter Druck. „Wir schlafwandeln in den Atomkrieg“, schreibt er – eine Referenz an die Vorkriegsanalysen des 20. Jahrhunderts. Der Gedanke, dass ein einzelner technischer Defekt oder ein Missverständnis unter Militärs die Welt vernichten könnte, wirkt wie ein Drehbuch – ist aber politische Realität.
Auswege aus der atomaren Falle
Doch Lynas bleibt nicht beim Alarmismus stehen. In der zweiten Hälfte des Buches zeigt er konkrete Wege auf, wie das Risiko minimiert und langfristig beseitigt werden kann. Dazu gehören Forderungen nach einer Entkopplung der Atomwaffen von Sofortbereitschaft, eine Reaktivierung diplomatischer Abrüstungsformate und eine globale Bewegung analog zur Klimabewegung. Er verweist auf bestehende Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag (NPT) und neue Ansätze wie das Atomwaffenverbot der UNO, das bisher jedoch kaum von den Atommächten unterstützt wird. Lynas appelliert an die Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft, das Thema nicht länger zu ignorieren.
Eine unbequeme Wahrheit, die gehört werden muss
Was Six Minutes to Winter so wirksam macht, ist Lynas’ Fähigkeit, Fakten und politische Analyse in eine zugängliche, journalistisch geschliffene Sprache zu überführen. Seine Argumente sind klar, belegt und nachvollziehbar. Wer das Buch liest, wird schwerlich zur Tagesordnung zurückkehren können. Denn Lynas formuliert keine Dystopie – er beschreibt das Heute. Und er ruft zur Handlung auf. Denn wenn der Countdown einmal läuft, bleiben keine sechs Minuten.
![]() | Mark Lynas: Six Minutes to Winter – Nuclear War and How to Avoid It. Bloomsbury Sigma, ersch. 8. Mai 2025 304 Seiten, 27,99 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
Letzte Beiträge
Buchtipp13. Juni 2025[Buchtipp] Das Klima und wir
Buchtipp12. Juni 2025[Buchtipp] Von Kabeln, Konflikten und inneren Tiefen
Buchtipp10. Juni 2025[Buchtipp] Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Utopie
Buchtipp6. Juni 2025[Buchtipp] Von den Neunzigern lernen
Schreibe einen Kommentar