Naturkundemuseen sind weitaus mehr als nur ein Archiv ausgestorbener oder aussterbender Arten – sie haben eine politische Botschaft, die unser Überleben als Art betrifft.
(Bild: Coverdetail/Propyläen Verlag)
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In den Katakomben des Berliner Naturkundemuseums lagern sie: hunderttausende Präparate, Schädel, Federn, Fossilien. Stumm und reglos erzählen sie von vergangenen Welten – und von einer Zukunft, die wir noch gestalten können. Im neuen Buch Das Parlament der Natur stellen Sarah Darwin, Johannes Vogel und Boris Herrmann die provokante Frage: Was wäre, wenn diese Sammlungen zu politischen Institutionen würden?
Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue Rolle der Wissenschaft – und eine ungewöhnliche Einladung, das Gespräch mit ausgestopften Tieren und gepressten Pflanzen nicht als museale Nostalgie, sondern als demokratischen Impuls zu verstehen.
Mehr als totes Wissen
Was haben ein Quaggaschädel, eine Wandertaube und ein Riesenalk gemeinsam? Alle drei Arten sind ausgestorben – und ihre Überreste lagern heute in Naturkundemuseen. Was auf den ersten Blick wie ein Mahnmal der Vergangenheit wirkt, wird im Buch zum Ausgangspunkt einer visionären Erzählung: Wenn wir verstehen, wie Biodiversität in der Geschichte verloren ging, können wir künftige Verluste verhindern.
Sarah Darwin, Urenkelin des Evolutionsforschers Charles Darwin, und Johannes Vogel, Direktor des Berliner Museums für Naturkunde, führen durch die Räume der Sammlung und durch die Ebenen der Erkenntnis. Unterstützt von Klima-Reporter Boris Herrmann, der als fragender Dritter fungiert, schlagen sie einen Bogen von ausgestorbenen Finkenarten bis zur Zukunft des Planeten.
Archive der Hoffnung
Der Kern ihrer Argumentation ist überraschend: Naturkundemuseen sind nicht nur Wissensspeicher, sondern Zukunftswerkstätten. In ihnen lassen sich Daten über Artenschwund, Klimaveränderung und genetische Vielfalt bündeln, Zeitachsen bilden, Trends erkennen. Doch sie könnten noch mehr leisten – als öffentliche Foren.
Die Autoren fordern, dass diese Institutionen zu Orten politischer Debatte werden. Nicht im Sinne von Parteienstreit, sondern als Räume, in denen gesellschaftliche Zukunftsfragen verhandelt werden. Das Naturwissen soll nicht im Elfenbeinturm verstauben, sondern als Grundlage für politische Entscheidungen dienen. Der Begriff „Parlament der Natur“ ist dabei bewusst doppeldeutig: Die Natur hat eine Stimme – wir müssen nur lernen, sie zu hören.
Eine Agenda für die Demokratie
Was wie ein kulturpolitischer Vorschlag klingt, hat in Wahrheit tiefgreifende Konsequenzen. Denn die zentrale These lautet: Ohne Naturverständnis keine zukunftsfähige Demokratie. Wer etwa weiß, wie lange es dauert, bis ein Ökosystem kollabiert, kann andere politische Prioritäten setzen als jemand, der nur Wahlperioden im Blick hat.
Darwin und Vogel argumentieren, dass naturkundliches Wissen das Rückgrat einer evidenzbasierten Politik sein sollte. In einer Zeit, in der Fake News, populistische Vereinfachung und Wissenschaftsskepsis zunehmen, kommt der Bildung eine neue politische Aufgabe zu. Das Buch versteht sich so auch als Appell an eine neue politische Aufklärung – naturwissenschaftlich fundiert, gesellschaftlich offen.
Zwischen Gespräch und Manifest
Stilistisch ist Das Parlament der Natur ein Hybrid: kein Sachbuch im klassischen Sinne, sondern ein dokumentiertes Gespräch. Boris Herrmann fragt, Darwin und Vogel antworten, diskutieren, ergänzen einander. Es ist diese dialogische Form, die den Text lebendig macht – und zugänglich auch für jene, die keine Biologen sind.
Manchmal gerät das Buch dabei fast ins Manifesthafte. Wenn die Autorinnen und Autoren über „Wissensgerechtigkeit“ und „Naturbewusstsein als demokratische Pflicht“ sprechen, spürt man die Dringlichkeit. Aber auch die Hoffnung. Denn ihre Vision ist nicht dystopisch – sondern konstruktiv.
Museen als Zukunftswerkstätten
Am Ende bleibt der Eindruck, dass Museen in dieser Erzählung nicht länger Speicher für Vergangenes sind, sondern Laboratorien für Kommendes. Der Appell ist deutlich: Gebt der Natur nicht nur ein Museum – gebt ihr eine Stimme. Und macht sie zu einem aktiven Teil unserer politischen Kultur. Ob das gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sich Gesellschaften für diese Idee öffnen. Das Parlament der Natur ist dafür ein ebenso kluger wie inspirierender Impuls – ein Buch, das nicht nur zeigt, was war, sondern fragt, was sein könnte.
![]() | Sarah Darwin, Johannes Vogel, Boris Herrmann, Das Parlament der Natur. Was uns Farne, Finken und ihre Verwandten zu sagen haben Propyläen Verlag Ersch. 13.03.2025 240 Seiten, 36,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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