[Buchtipp] Von den Neunzigern lernen

[Buchtipp] Von den Neunzigern lernen

Es war die Zeit der Nachwende-Konjunktur, aber auch das Jahrzehnt von Neoliberalismus und New Labour: Die 1990er stecken uns immer noch in den Knochen – höchste Zeit für bewusste Vergangenheitsbewältigung, damit die Zukunft besser wird.

(Bild: Coverdetail/Verlag)


Plakate verblassen, aber Versprechen bleiben. Wer an die 1990er-Jahre denkt, hat vielleicht den Klang von AOL-Modems im Ohr, erinnert sich an Bill Clintons Daumengeste oder die Euphorie des Mauerfalls. Georg Diez aber vernimmt das Ticken einer Zeitbombe. In seinem neuen Buch Kipppunkte nimmt der langjährige „Spiegel“-Redakteur und Essayist die Dekade der scheinbaren Unschuld unter die Lupe – und macht sie zum Schlüssel für das Verständnis unserer fragilen Gegenwart.

Eine Ära im Rückspiegel

Diez, geboren 1969, schreibt nicht aus distanzierter Beobachtung, sondern als Beteiligter. Als junger Journalist erlebte er die 1990er mit – als Jahre der Öffnung, der Utopien, aber auch der Verdrängungen. Sein Buch ist weder rein autobiografisch noch eine klassische Analyse. Es ist ein kluger, streitbarer Essay in Langform, der persönliche Erinnerungen mit politischem Scharfsinn verwebt. Er nennt es selbst einen „Versuch über die Gegenwart“ – und dieser Versuch beginnt nicht mit Trump oder der Klimakrise, sondern mit Helmut Kohl, Tony Blair und einer Zeit, in der vieles möglich schien.

Versprechen, die sich verkehrten

Die zentrale These: Die 1990er waren eine Dekade des Aufbruchs – aber auch der Weichenstellungen, die ins Desaster führten. Die neoliberale Euphorie, die Deregulierung der Finanzmärkte, das Internet als Heilsversprechen – all das wurde in jenen Jahren grundgelegt. Und während Popkultur, Mode und Globalisierung das Bild einer weltoffenen Moderne prägten, entstanden im Schatten dieser Euphorie neue Abhängigkeiten, neue Ungleichheiten, neue ideologische Leerstellen.

Die Welt wurde zur Ware“, schreibt Diez. „Und die Demokratie zur Dienstleistung.“ Seine Diagnose ist scharf, aber nicht nostalgisch. Es geht ihm nicht um die Verklärung einer besseren Vergangenheit, sondern um die schonungslose Analyse ihrer Bruchstellen.

Vom Erinnern zum Handeln

Was Kipppunkte so lesenswert macht, ist Diez’ Fähigkeit, historische Beobachtungen mit gegenwärtigen Fragen zu verschränken. Die Rückkehr des Faschismus, die Krise der Demokratien, die Ohnmacht angesichts der Klimakrise – all das erscheint in seinem Buch nicht als plötzlicher Einbruch, sondern als folgerichtig. Und doch verzichtet er auf Fatalismus. Im Gegenteil: Diez schreibt, um an das Veränderbare zu erinnern.

Er fordert eine neue Kultur der politischen Vorstellungskraft. „Wir müssen wieder lernen, in Alternativen zu denken“, heißt es im Buch. Was wie eine einfache Formel klingt, ist in Wahrheit ein hochpolitisches Programm – gegen Technokratie, gegen Gleichgültigkeit, gegen den Triumph der Sachzwänge.

Essayistisch, erzählend, unbequem

Die Sprache des Buches ist zugleich essayistisch und erzählend. Sie pendelt zwischen Analyse und Anekdote, zwischen Zitat und Zorn. Manchmal schäumt Diez vor Wut, manchmal lässt er seine Erinnerungen treiben – aber immer bleibt er präzise. Wer Klartext erwartet, bekommt ihn. Wer Trost sucht, wird enttäuscht. Wer sich auf das Buch einlässt, wird angestachelt.

Ein zentrales Motiv: Kipppunkte, wie wir sie aus der Klimaforschung kennen, als gesellschaftliche Momente. Wenn sich Stimmungen drehen, wenn Systeme kollabieren, wenn Ideen kippen – das sind die Augenblicke, in denen Geschichte plötzlich Fahrt aufnimmt. Und genau in diesen Momenten liegt, so Diez, auch die Chance auf Veränderung.

Ein Buch als Weckruf

„Kipppunkte“ ist kein nostalgisches Zeitporträt, sondern ein politisches Alarmsignal. Es will erinnern, um zu mobilisieren. Diez blickt zurück, um nach vorn zu drängen. Dabei bleibt er unbequem, manchmal wütend, aber nie zynisch. Denn trotz aller Krisen, trotz aller Enttäuschungen glaubt er an die Möglichkeit, dass Gesellschaft anders sein kann – gerechter, mutiger, demokratischer.

Und vielleicht liegt gerade darin die wichtigste Botschaft dieses Buchs: Dass man aus der Geschichte nicht nur lernen kann, sondern lernen muss. Denn wer die Vergangenheit versteht, kann die Zukunft gestalten.


BuchcoverGeorg Diez,
Kipppunkte
Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart

Aufbau-Verlag
erschienen: 12.03.2025
395 Seiten, 26 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Proudly powered by WordPress