[Buchtipp] Venus statt Faustkeil

[Buchtipp] Venus statt Faustkeil

Neuer Blick auf den Anfang der Menschheit: Für ihren engagierten und pointierten Comic erhielt Ulli Lust kürzlich den Deutschen Sachbuch-Preis des Börsenvereins.

(Bild: Coverdetail/Reprodukt Verlag)


Sie stehen in Vitrinen, als wären sie bloß dekorative Artefakte: kleine Skulpturen aus Stein, Knochen oder gebranntem Ton – mit gewaltigen Hüften, wuchtigen Brüsten, ohne Gesicht. „Venusfigurinen“ nennt sie die Archäologie, und meist endet das Interesse hier. Doch was, wenn diese Darstellungen mehr über die Gesellschaften der Steinzeit verraten, als uns bislang bewusst war? In ihrem neuen Sachcomic Die Frau. Am Anfang der Geschichte widmet sich Ulli Lust diesen rätselhaften Frauenbildern. Was beginnt wie ein Spaziergang durch das Museum, entwickelt sich zu einer visuellen Archäologie des Frauseins – voller Empathie, Wissensdurst und Widerstand gegen die männlich geprägten Geschichtsbilder unserer Gegenwart.

Jägerinnen der Erkenntnis

Das Besondere an Lusts Zugang: Sie verknüpft die archäologischen Funde nicht mit einem weiteren Mythos, sondern mit aktuellen Theorien und ethnologischen Parallelen. Wer waren die Menschen, die solche Skulpturen fertigten? In welchen Rollen lebten die dargestellten Frauen – oder vielleicht auch nicht-binären Menschen?

Auf großformatigen Seiten, manchmal handgreiflich, manchmal zärtlich, entfaltet Lust eine andere Erzählung der Menschheitsgeschichte. Nicht das einzelne männliche Genie steht hier im Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft: Überleben als kollektive Aufgabe, getragen von Fürsorge, Weitergabe und Kreativität.

Der Ursprung der Kunst – eine politische Frage

Der Comic ist nicht nur ein Ausflug in die Urzeit, sondern auch eine Reflexion über Gegenwart und Repräsentation. Warum tauchen in Schulbüchern fast ausschließlich Männer als Urzeitmenschen auf – als Jäger, Werkzeugmacher, Höhlenmaler? Warum bleibt die künstlerische Deutungskraft der sogenannten „Venusfigurinen“ so unklar?

Lust konfrontiert diese Leerstellen mit einer bildnerischen Kraft, die sich jeder musealen Ordnung verweigert. In wilden, manchmal traumähnlichen Szenen lässt sie steinzeitliche Fantasien auf heutige Fragen prallen – über Geschlecht, Arbeitsteilung, Macht und Sichtbarkeit.

Aktuelles Wissen aus der Archäologie, gepaart mit Ideen aus ethnologischen Beispielen und in Reflexion mit der Gegenwart, erzeugen einen brisanten Mix zum Nachdenken über unser Verständnis vom ‚Frausein‘“, so kommentiert es Urgeschichtlerin Christine Neugebauer-Maresch von der Universität Wien.

Empathie als Überlebensstrategie

Was Die Frau besonders macht, ist die Fähigkeit, wissenschaftliche Recherche und künstlerische Imagination zu verbinden. Lust spekuliert nicht ins Leere, sondern führt Quellen, Thesen und Fundstücke zu einer Erzählung zusammen, die die klassische männliche „Heldenreise“ aufbricht.

Die Steinzeit erscheint hier nicht als düstere Vergangenheit, sondern als experimenteller Möglichkeitsraum. Empathie wird zur Schlüsselfähigkeit – nicht nur im Sozialen, sondern auch im Kulturellen. Die frühesten künstlerischen Zeugnisse der Menschheit bestehen eben nicht nur aus Waffen oder Werkzeugen, sondern ebenso aus Darstellungen von weiblichen Körpern, die für eminent soziale Themen wie Geburt, Familie oder gemeinsame Fürsorge stehen, und zugleich für menschliche Schöpfungskraft und Fantasie allgemein.

Ein Comic, der mehr zeigt als Bilder

Ulli Lust gelingt mit Die Frau ein ungewöhnliches Sachbuch, das genauso viel fragt wie es erzählt. Es ist kein abschließendes Urteil über die Frühgeschichte, sondern eine Einladung zum Perspektivwechsel – visuell, intellektuell, politisch.

Der Comic ist eine Hommage an das verkannte Wissen der Vorzeit – und zugleich eine Kritik an den blinden Flecken moderner Geschichtsschreibung. Was wir über die Vergangenheit denken, sagt oft mehr über unsere Gegenwart aus, als uns lieb ist.


BuchcoverUlli Lust,
Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte,
Reprodukt Verlag
Erschienen im Februar 2025
256 Seiten, farbig, 29,00 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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