[Buchtipp] Alltag als Archiv der Arbeit

[Buchtipp] Alltag als Archiv der Arbeit

Arbeit ist weit mehr als nur eine Ware – doch zugleich ist sie eben auch Teil eines Systems, in dem es vor allem um die Verwertung von Produktivkraft geht. Heike Geißlers Buch ist das Protokoll einer Feldstudie in Sachen Alltag im Spätkapitalismus: wie leben wir eigentlich, und warum ist das so?

(Bild: Coverdetail/Hanser Verlag)


Heike Geißler hat ein feines Ohr für das Knirschen im System. In ihrem Buch Arbeiten sammelt sie Töne, Gesten und Gedanken aus einem Leben, das von Erwerbsarbeit durchzogen ist – wie jedes andere. Ob beim Gespräch mit dem Handwerker, der das Fenster ausbaut, mit der Paketbotin an der Tür oder in der Erinnerung an die Eltern: Geißler lauscht, registriert, befragt – und denkt weiter. Ihre Beobachtungen sind keine soziologischen Fallstudien, sondern literarisch gefasste Annäherungen an eine Frage, die alle betrifft: Wofür schuften wir eigentlich?

Dabei meidet Geißler bewusst das große Theoriegebäude. Ihre Sätze kommen leise daher, manchmal tastend, aber mit präziser Beobachtungsgabe. Arbeiten ist kein Manifest, sondern ein Mosaik – aus Szenen, Stimmen, Eindrücken und Fragen, die lange nachhallen.

Der Wert des Menschen in Stunden und Cent

Die Frage nach dem Wert des Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch – mal explizit, mal zwischen den Zeilen. Wer ist was wert, und wer bestimmt das? Geißler lässt keinen Zweifel daran: Arbeit ist in unserer Gesellschaft zur Währung der Daseinsberechtigung geworden. Wer nicht arbeitet, verliert nicht nur Einkommen, sondern auch Ansehen und Zugehörigkeit.

Besonders deutlich wird das in den Passagen über körperlich belastete Berufe, prekäre Arbeitsverhältnisse oder unsichtbare Care-Arbeit. Da ist die Freundin, die wegen einer chronischen Krankheit nicht mehr arbeiten kann – und sich dennoch rechtfertigen muss. Oder die Eltern, deren ganze Biografie von produktiver Arbeit geprägt war – und denen heute die Worte fehlen für eine andere Erzählung von Wert.

Und doch hält Geißler sich fern von der Schablone der Lohnarbeit als bloßem Elend. Stattdessen macht sie sichtbar, wie tief Arbeit mit Identität, Sinnsuche und sozialer Teilhabe verwoben ist – und wie sehr sich viele zwischen Überleben und Selbstverwirklichung zerreiben.

Gespräche, die den Blick weiten

Geißlers Methode ist die der teilnehmenden Beobachtung – aber mit literarischer Handschrift. Ihre Gespräche sind mehr als Interviews: Sie werden zu kleinen Szenen mit großer Resonanz. Etwa wenn sie einem Fensterbauer zuhört, der den ganzen Tag durchsaniert, aber selbst kaum über die Runden kommt. Oder wenn sie in einem Lieferboten einen Gesprächspartner findet, der zwischen Zeitdruck und Routinen fast verschwindet.

Diese Dialoge öffnen Räume. Sie zeigen, wie sich Arbeit in Körper einschreibt, in Biografien einbrennt, in Beziehungen fortwirkt. Geißlers Stärke liegt darin, nicht zu urteilen, sondern zu durchdringen – mit klarer Sprache, aber ohne pädagogischen Zeigefinger.

Schreiben als Widerstand

Heike Geißler ist keine Autorin, die sich mit halben Sätzen abspeisen lässt. Schon in ihrem vielbeachteten Buch Saisonarbeit, das ihre Zeit bei Amazon thematisierte, zeigte sie, dass Schreiben auch ein Akt des Widerstands sein kann. In Arbeiten bleibt sie dieser Linie treu. Sie schreibt nicht aus sicherer Distanz, sondern als Betroffene, als Tochter ostdeutscher Arbeiter, als Mutter, als Frau.

Ihre Kritik ist systemisch – aber nicht akademisch verkopft. Sie ist persönlich – aber nicht privat. Und sie ist poetisch – aber nicht verklärt. Zwischen Analyse, Erzählung und Essay changierend, gelingt ihr ein Buch, das nachhallt. Wer es liest, wird Arbeit künftig mit anderen Augen sehen.

Kein Ratgeber – zum Glück

Arbeiten ist kein Buch mit Tipps für „Work-Life-Balance“ oder für mehr Effizienz im Homeoffice. Es ist ein literarisches Journal über das, was Arbeit mit uns macht – und was wir aus ihr machen könnten. Geißler stellt Fragen, die keine einfachen Antworten brauchen, sondern ein Umdenken. Ihr Buch ist eine Einladung zur Reflexion, nicht zur Optimierung. Ein Buch, das sich Zeit nimmt – und Leserinnen und Leser dazu bringt, dasselbe zu tun.


Buchcover
Heike Geißler,
Arbeiten
Suhrkamp Verlag
Erschienen 25.4.2025
128 Seiten, 20,00 Euro


Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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