[Buchtipp] Eine Nation auf der Couch

[Buchtipp] Eine Nation auf der Couch

Das Unbewusste bewusst machen, das ist auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene notwendig, zeigen Christina von Braun und Tilo Held – denn Psychoanalyse hat eine politische Dimension.

(Bild: Coverdetail/Aufbau Verlag)


Was treibt uns an, wenn wir glauben, vernünftig zu handeln – und es doch nicht tun? Warum kehren dieselben politischen Ängste, Verschwörungsbilder und Schuldzuschreibungen immer wieder zurück, nur in neuer Form? In Kampf ums Unbewusste gehen Christina von Braun und Tilo Held genau diesen Fragen nach – und zeigen, dass die tiefsten Triebkräfte gesellschaftlicher Konflikte oft nicht in Parlamentsreden oder Parteiprogrammen liegen, sondern im Verborgenen, im kollektiven Unbewussten. Mit anderen Worten – die ganze Nation sollte auf die Couch, und sich einer Psychoanalyse stellen. Stellvertretend, so könnte man sagen, passiert genau das in diesem Buch.

Das Unbewusste – eine Entdeckung der Moderne

Das Autorenduo setzt ein mit einer historischen Diagnose: Als die Religion im 19. Jahrhundert an Einfluss verlor, entstand ein neues geistiges Terrain – das Unbewusste. Ein Raum, in dem Wünsche, Ängste und Abwehrmechanismen lagern. Dort, wo einst Gott das Verhalten lenkte, traten nun Triebe, Symbole und Traumata. Die Psychoanalyse – zunächst als Therapieform konzipiert – wurde damit auch zur kulturellen Beobachtungsstation.

Von Braun und Held zeigen eindrucksvoll, wie Sigmund Freuds Modell des Unbewussten mehr war als nur medizinische Theorie: Es war ein Weltdeutungsangebot, ein Werkzeug, um Gesellschaft zu analysieren – und zu kritisieren.

Die große Angst vor der Ambivalenz

Das Buch gewinnt seine Kraft aus dem Blick auf das Politische. Ob Antisemitismus, Verschwörungsideologien oder die Anfälligkeit für autoritäre Systeme – immer wieder fragen die Autoren: Was spielt sich unbewusst ab? Welche kollektiven Ängste, Projektionen und Abwehrmechanismen stehen hinter dem Ruf nach „Ordnung“?

Dabei zeichnen sie ein komplexes Bild: Totalitarismus wird nicht einfach als politisches System verstanden, sondern als psychodynamisches Gefüge. Antisemitismus erscheint als Ausdruck unbewusster Schuldabwehr – ein Versuch, das eigene Unbehagen auszulagern. Die Autoren holen tief aus, bleiben aber analytisch klar.

Gender, Medien, Fake News – das Unbewusste im Digitalzeitalter

Ein weiterer Strang des Buches widmet sich den kulturellen Kämpfen der Gegenwart: Geschlechterrollen im Wandel, Identitätskonflikte, die Emotionalisierung der Öffentlichkeit. Auch hier argumentieren von Braun und Held aus psychoanalytischer Perspektive – ohne je ins Pathologisierende zu verfallen.

Besonders aufschlussreich: Die Analyse von Fake News und Verschwörungstheorien als „Träume der Gegenwart“. Wer sich in digitale Parallelwelten flüchtet, sucht nicht nur Information – sondern Deutung, Bindung, emotionale Sicherheit. Die Autoren nehmen das ernst und liefern keine moralische Abrechnung, sondern ein tiefenpsychologisches Verständnis.

Psychoanalyse als Kulturkritik – und Zukunftshoffnung

Der vielleicht wichtigste Beitrag dieses Buches ist sein Plädoyer für eine interdisziplinäre, gesellschaftlich relevante Psychoanalyse. Sie soll nicht im Elfenbeinturm der Therapie verschwinden, sondern sich politisch einmischen: als Krisendiagnose, aber auch als Zukunftsperspektive.

„Die Psychoanalyse kann Brücken schlagen zwischen individuellen Erfahrungen und gesellschaftlichen Zuständen – wenn sie sich nicht selbst entpolitisiert“, heißt es an einer Stelle. Dieser Satz ist programmatisch – und notwendig. Genau wie der gesamte Band.


Christina von Braun & Tilo Held,
Kampf ums Unbewusste
Eine Gesellschaft auf der Couch
,
Aufbau Verlag,
erschienen am 14.5.2025,
736 Seiten, 34,OO Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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