[Buchtipp] Jenseits der Ohnmacht

[Buchtipp] Jenseits der Ohnmacht

Berardi beschreibt in „Futurability“ unsere Gegenwart als „semiotische Explosion“ – eine Überflutung mit Zeichen, Reizen und Informationen, die die psychische Integrität des sozialen Körpers zersetzt. Doch neben der Macht des Bestehenden gibt es auch einen Möglichkeitsraum – eine Art grundsätzliche „Zukunftsfähigkeit“.


Der moderne Mensch hat das Steuer aus der Hand gegeben. Zwischen technischer Überforderung, politischer Paralyse und sozialer Desintegration steuert unsere Zivilisation einem unbekannten Ziel entgegen – oder besser: sie treibt, haltlos, in einem Meer aus Reizüberflutung und Sinnverlust. Der italienische Theoretiker Franco „Bifo“ Berardi nennt diese Epoche „das Zeitalter der Ohnmacht“. In seinem Buch Futurability durchquert er dieses Terrain mit einem Instrumentarium, das ebenso philosophisch wie poetisch ist – und mit einem Blick, der aus der Hoffnungslosigkeit das utopische Potenzial zu destillieren versucht.

Denken in drei Begriffen: Möglichkeit, Potenz, Macht

Berardis Analyse kreist um drei Grundbegriffe: Possibility, Potency und Power – Möglichkeit, Potenz, Macht. Während „Macht“ als die Verhärtung bestehender Kräfteverhältnisse erscheint, steht „Potenz“ für das, was noch werden kann – die ungenutzte Fähigkeit zur Veränderung. Die „Futurability“, die Berardi ins Spiel bringt, bezeichnet jenen Möglichkeitsraum, der aus der Spannung zwischen diesen Polen entsteht. Die zentrale Frage lautet: Können wir unter Bedingungen totalisierter Kontrolle, digitaler Dauererregung und kultureller Erschöpfung überhaupt noch eine andere Zukunft denken?

Die Sprache des Wahnsinns

Berardi beschreibt unsere Gegenwart als „semiotische Explosion“ – eine Überflutung mit Zeichen, Reizen und Informationen, die die psychische Integrität des sozialen Körpers zersetzt. In einer Sprache, die an Guattari und Deleuze erinnert, interpretiert er die kollektive Erschöpfung als „psychotische Epidemie“. Der Wahnsinn, so Berardi, sei dabei nicht bloß ein medizinischer Zustand, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden Zivilisationskonflikts: „Die moderne Gesellschaft ist unfähig geworden, den Strom der Bedeutung zu verarbeiten – die Rationalität ist überfordert, die Empathie erlahmt“.

Doch Wahnsinn hat für Berardi auch eine produktive Seite: Er ist das „chaotische Material“, aus dem neue Ordnungen geschaffen werden können. Aus der subjektiven Desorientierung könne – unter den richtigen Bedingungen – ein gemeinschaftlicher Neuaufbruch entstehen.

Die Macht des Ungewissen

Was „Futurability“ so eindrucksvoll macht, ist Berardis Fähigkeit, die Erschütterungen der Gegenwart nicht nur zu benennen, sondern sie als Vorbereitung auf etwas Größeres zu lesen: eine noch ungeformte Zukunft, die im Schatten der alten Ordnung heranwächst. Auch wenn die klassischen Erzählungen von Fortschritt, Identität und Nation implodieren, bleibt ein Rest – das vage Wissen, dass es auch anders sein könnte.

Wenn die Gesellschaft in den Kollaps übergeht, öffnet sich ein Horizont des Möglichen“, schreibt Berardi. Dieser Horizont sei schwer zu kartieren, seine Umrisse flimmern – doch genau darin liege seine Kraft. Es gehe darum, die unbewussten Potenziale des Sozialen zu reaktivieren, nicht durch Politik im herkömmlichen Sinn, sondern durch kollektive Imagination und geteilte Bedeutung.

Freundschaft als politische Kraft

Im Zentrum von Berardis Utopie steht ein Begriff, den man selten in politischen Theorien findet: Freundschaft. Für ihn ist sie das „Bedingungsgefüge der Sinnproduktion“. Wenn Freundschaft zerfällt – in einer Welt der Isolation, Konkurrenz und Identifikation –, bricht auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Der Weg zurück führt über das gemeinsame Projekt der Bedeutung, über die Wiederentdeckung von Empathie und kreativer Kooperation.

Berardi ruft damit zu keiner Revolution im klassischen Sinn auf. Stattdessen schlägt er eine tiefgreifende Reorientierung unserer Wahrnehmung vor – eine neue Art, Zeit, Sprache und soziale Beziehungen zu denken. Futurability ist kein Manifest, sondern ein Denkraum: dunkel, schmerzhaft, aber offen.

Die Pointe: Hoffnung als Wagnis

Die Stärke dieses Buchs liegt nicht in der Systematik – auch wenn es als Berardis „systematischstes Werk“ gilt –, sondern im poetisch-philosophischen Zugriff. Wer klare Rezepte sucht, wird enttäuscht. Wer aber eine dichte, sprachlich präzise und analytisch fordernde Auseinandersetzung mit der Gegenwart lesen will, findet hier ein seltenes Beispiel für kritische Theorie, die nicht im Zynismus versinkt.

Am Ende bleibt Berardi bei allem Pessimismus ein Möglichkeitsdenker. In einer Welt, die von Algorithmen gesteuert, von Angst beherrscht und von Profitlogiken zersetzt wird, ist die größte Zumutung vielleicht: an Zukunft überhaupt noch zu glauben.


coverFranco Bifo Berardi: Futurability – The Age of Impotence and the Horizon of Possibility.
Verso Verlag,
224 Seiten, 13,99 Euro Erschienen 2019



Kurzinfo: „Futurability“ von Franco Bifo Berardi
• Philosophisch-politisches Werk zur Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft
• Zentrale Begriffe: Potenz, Möglichkeit, Macht
• These: Wir leben im Zeitalter kollektiver Ohnmacht – aber im Chaos liegt ein Möglichkeitsraum
• Kritik an Kapitalismus, digitaler Reizüberflutung und wachsender sozialer Isolation
• Hoffnung auf neue Sinnproduktion durch Freundschaft, Empathie und geteilte Bedeutungsräume
• Stilistisch: dichter, poetischer Essayismus mit Anleihen an Deleuze, Guattari, Foucault
• Kein Manifest, sondern ein philosophischer Denkraum
• Lesenswert für alle, die nach Perspektiven jenseits des politischen Status quo suchen

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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