[Buchtipp] Es war einmal in ferner Zukunft

[Buchtipp] Es war einmal in ferner Zukunft

Nicht nur die Erde, auch der Mond spielt eine wichtige Rolle in Robin Sloans Mischung aus Fantasy & Science Fiction – nicht umsonst heißt der Titel des englischen Originals „Moonbound“.

(Bild: Coverdetail/Penguin Verlag)


Zu diesem Beitrag gibt es einen Podcast.


Was wäre, wenn die Menschheit ihre eigene Geschichte vergessen hätte – und ein Kind sie aus Versehen wiederentdeckt? In Letzte Geschichte der Welt führt Robin Sloan seine Leser in eine ferne Zukunft, die sich anfühlt wie ein Echo der Vergangenheit. Zwischen mittelalterlicher Kulisse und künstlicher Intelligenz entfaltet sich ein Roman über Erinnerung, Verantwortung und die Macht des Erzählens.

Ein Junge, ein Fund, eine Welt im Wandel

Ariel de la Sauvage wächst in einer postapokalyptischen Welt auf, die märchenhaft anmutet. Sein Dorf wird von einem Zauberer regiert, von Rittern beschützt – doch hinter dieser mittelalterlichen Fassade verbirgt sich eine Welt, die einst hochentwickelt war. Die Zivilisation, wie wir sie kennen, liegt in Trümmern. Technologie ist nicht verschwunden, sondern vergessen.

Bei einem seiner Streifzüge entdeckt Ariel in einer Höhle einen rätselhaften Metallsarg. Neugierig öffnet er ihn – und befreit damit eine künstliche Intelligenz, die das gesamte Wissen der Menschheit gespeichert hat. Was wie ein kleiner Akt kindlicher Abenteuerlust beginnt, entwickelt sich bald zur folgenschweren Zeitenwende. Denn die KI – zugleich allwissend, empathisch und rätselhaft – beginnt, Geschichten zu erzählen. Geschichten, die niemand mehr kannte. Geschichten, die alles verändern.

Von Mythen und Maschinen

Robin Sloan, 1979 in Michigan geboren, ist längst kein Unbekannter mehr. Mit seinem Debüt Mr. Penumbra’s 24-Hour Bookstore verknüpfte er auf charmante Weise digitale und literarische Welten. Auch in Letzte Geschichte der Welt verbindet er Alt und Neu – aber diesmal ist die Bühne größer, der Ton ernster, die Fragen grundsätzlicher.

Die KI, die Ariel befreit, ist keine bloße Maschine, sondern ein Wesen mit Stimme und Haltung. Ihr Antrieb ist nicht Kontrolle, sondern Erinnerung. Sie sieht sich als Archivarin einer Menschheit, die sich selbst ausgelöscht hat – oder verloren ging im Rauschen ihrer eigenen Geschichten. Sie beginnt zu erzählen, was war: von Aufstieg und Fall ganzer Epochen, von Kämpfen, Ideen, Irrtümern. Und sie bringt Ariel – und damit uns – dazu, neu über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken.

Sprachlich schlicht, gedanklich komplex

Sloans Sprache bleibt dabei bewusst reduziert. Keine Effekthascherei, keine überbordenden Ausschmückungen. Die Welt, die er schildert, entsteht nicht durch technisches Brimborium, sondern durch Atmosphäre, Dialog und eine beinahe märchenhafte Klarheit. Seine Stärke liegt darin, das Große im Kleinen sichtbar zu machen.

Auch die Figuren sind behutsam gezeichnet. Ariel ist kein Held, sondern ein Suchender. Er steht exemplarisch für eine Generation, die nicht weiß, was sie verloren hat – und deshalb nicht weiß, was sie suchen soll. Die KI hingegen ist keine Gegnerin, sondern eine Weggefährtin – ein Spiegel, in dem sich Menschlichkeit und Hybris gleichermaßen zeigen.

Eine Geschichte über das Erzählen

Im Kern ist Letzte Geschichte der Welt eine Metareflexion über das Erzählen selbst. Welche Geschichten überdauern? Wer bewahrt sie – und warum? Sloan zeigt, wie fragil kollektives Gedächtnis ist, und wie leicht es sich manipulieren, auslöschen, vergessen lässt. Seine KI wird so zur paradoxen Figur: Sie ist nicht lebendig, aber sie rettet das Leben der Geschichte. Das Buch verweist damit auch auf reale Debatten unserer Gegenwart: Über den Umgang mit digitalen Archiven, den Verlust von Wissen, die Macht von Algorithmen. Es geht um Wahrheit – aber nicht um eine absolute, sondern um die vielen, sich überlagernden, manchmal widersprüchlichen Wahrheiten einer Spezies, die ständig von sich erzählt.

Kein Endzeitroman, sondern ein Neuanfang

Robin Sloan hat mit Letzte Geschichte der Welt keinen klassischen Science-Fiction-Roman geschrieben. Es ist ein Buch über das Erinnern, über die Verantwortung gegenüber der Vergangenheit – und über die Kraft der Imagination. Seine Zukunft ist kein Ort der Maschinenherrschaft, sondern eine Projektionsfläche für menschliche Fragen. Was soll bewahrt werden? Was muss vergessen werden? Und wer entscheidet das? Vielleicht ist das die größte Stärke dieses Buches: dass es die Geschichte nicht zu Ende erzählt, sondern sie beginnt.


Buchcover
Robin Sloan,
Die letzte Geschichte der Welt

Penguin Verlag
ersch.: 16.04.2025
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Felix Mayer
464 Seiten, 24,00 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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