Früher war Ablenkung eher ein temporärer Effekt von Massenmedien wie etwa dem Fernsehen – doch das Smartphone ist ein weitaus mächtigeres Gerät, das den kompletten Alltag bestimmt.
(Bild: Cover/Crown Publishing)
Ein Tisch, vier Menschen, vier Bildschirme. Niemand spricht. Ein typisches Bild unserer Zeit – und ein stilles Symbol jener Transformation, die Chris Hayes in seinem neuen Buch Siren’s Call seziert. Die Metapher der Sirenen – einst Fabelwesen, die Seefahrer in den Tod lockten – steht hier für Smartphones, Apps und Algorithmen. Ihr Gesang tönt aus unseren Taschen, auf unseren Nachttischen, in unseren Gedanken. Und er hat Konsequenzen: für unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Demokratie.
Vom Homo sapiens zum Homo distractus
Hayes, Journalist und Politikanalyst, ordnet die Digitalisierung nicht einfach als technologische Entwicklung ein. Für ihn ist sie eine tektonische Verschiebung, vergleichbar mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Wo einst Arbeitskraft ausgebeutet wurde, ist es heute unsere Aufmerksamkeit. Was wie ein unbegrenztes Gut erscheint, ist in Wahrheit ein endlicher Rohstoff – heiß umkämpft und systematisch abgeschöpft. „Wir haben mit ein paar Techfirmen das Verhältnis von öffentlich und privat in zehn Jahren zerstört“, schreibt Hayes. Das ist mehr als eine pointierte Diagnose – es ist ein Weckruf.
Wie wir zur Ware wurden
Im Zentrum steht die These, dass Aufmerksamkeit nicht mehr frei verfügbar ist, sondern zur Handelsware geworden ist – ein Geschäftsmodell, das auf unser tiefstes Menschsein zielt: wir werden mit Reizen überflutet, mit Belohnungen gefügig gemacht, und am Ende süchtig nach immer mehr. Hayes zeigt, wie sich unser Alltag in eine Infrastruktur der Ablenkung verwandelt hat. In sozialen Medien, auf Nachrichtenseiten, in Streamingdiensten wird unser Verhalten vermessen, manipuliert, monetarisiert. Der Mensch, so seine Botschaft, steht nicht mehr als Nutzer oder Kunde im Mittelpunkt – er ist schlicht das Produkt selbst.
Politik der Ablenkung
Besonders eindrucksvoll erscheint, wie Hayes den Bogen zur Politik schlägt. Denn was wie eine persönliche Schwäche aussieht – der ständige Griff zum Handy – ist zugleich Teil eines globalen Machtgefüges. Wer unsere Aufmerksamkeit lenkt, beeinflusst Meinungen, Märkte, Mehrheiten. Demokratie, so Hayes, braucht mündige Bürgerinnen und Bürger – doch die leben heute in einer Welt, die alles daran setzt, sie abzulenken. Siren’s Call ist damit nicht nur Medienkritik, sondern ein zutiefst politisches Buch.
Ein Aufruf zur Rehumanisierung
Trotz aller Analyse bleibt Hayes nicht bei der Diagnose stehen. Er plädiert für eine neue Ethik der digitalen Welt, für Selbstschutz und politische Regulierung. Es gibt einen Kipppunkt, warnt er, und vielleicht sind wir näher dran, als wir glauben. Es reicht nicht aus, sich wie Odysseus mit Wachs in den Ohren unempfänglich zu machen, und sich zur Sicherheit auch noch an den Mast fesseln zu lassen. Wir müssen aktiv werden, das Schiff umsteuern – Siren’s Call ist insofern nicht nur ein intellektuelles Warnsignal, sondern zugleich ein Plädoyer dafür, das Steuer wieder selbst in die Hand zu nehmen.
![]() | Chris Hayes, Siren’s Call. How Attention Became the World’s Most Endangered Resource, Crown Publishing, ersch. Mai 2024, 256 S., 18,99 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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