Zuhören können ist eine Schlüssekompetenz, die in der Zukunft immer wichtiger wird – denn sonst driftet unsere Gesellschaft noch weiter auseinander. Die gute Nachricht: man kann es lernen.
(Bild: Coverdetail/Hanser Verlag)
Ein Mensch, der zuhört, unterbricht nicht. Er hält aus, auch wenn das Gesagte irritiert oder schmerzt. Er stellt sich selbst zurück – für einen Moment – und öffnet einen Raum, in dem Verständigung möglich wird. Doch wie oft gelingt das im Alltag, in der Politik oder den Medien? Bernhard Pörksen widmet diesem seltenen Moment in seinem neuen Buch ganze 336 Seiten. Der Titel: schlicht Zuhören. Der renommierte Tübinger Medienwissenschaftler, bekannt durch Werke wie Die große Gereiztheit oder Der entfesselte Skandal, nimmt sich diesmal einer Kulturtechnik an, die in Zeiten der Dauerbeschallung zur Gegenbewegung taugt: der Kunst, sich der Welt wirklich zu öffnen – durch aufmerksames, aktives, empathisches Zuhören.
Vom Schlagwort zur Haltung
„Zuhören“ – das klingt zunächst banal. Politiker fordern es, Therapeutinnen üben es, und in sozialen Medien ist es zum Appell geworden: Hört auf die Wissenschaft! Hört den Betroffenen zu! Doch für Pörksen ist Zuhören kein moralisches Ornament, sondern ein Akt tiefgreifender Selbstverunsicherung – und damit eine politische Haltung.
Mit präziser Sprache analysiert er, was Zuhören verhindert: kognitive Verzerrungen, Gesprächsrituale, die eher auf Bestätigung als auf Erkenntnis zielen, sowie die mediale Dauererregung, die schnelle Reaktionen belohnt statt leiser Reflexion. Besonders eindrücklich beschreibt er, wie Opfer sexualisierter Gewalt oder Aktivistinnen des Klimaschutzes über Jahre ignoriert oder lächerlich gemacht wurden – nicht weil man ihnen widersprach, sondern weil man ihnen nie wirklich zuhörte.
Wer nicht zuhört, verpasst die Zukunft
Für Pörksen ist Zuhören eine Schlüsselkompetenz im Zeitalter der Krise. Denn wer nicht zuhört, versteht nicht – und wer nicht versteht, trifft schlechte Entscheidungen. An Beispielen wie dem Missbrauchsskandal der katholischen Kirche oder der Corona-Kommunikation zeigt er, wie viel Vertrauen verspielt wird, wenn Empathie durch technokratische Sprachlosigkeit ersetzt wird.
Dabei bleibt er nie in der Analyse stecken. Vielmehr entwickelt er konkrete Vorschläge, wie man den Raum des Gesprächs wieder öffnen kann: durch dialogische Interviewtechniken, die bewusste Einübung von Perspektivwechseln oder Methoden aus der Mediation. Er bezieht sich auf psychologische Studien ebenso wie auf philosophische Traditionen – etwa auf Hans-Georg Gadamers hermeneutisches Prinzip des „Andersseins des Anderen“.
Zuhören als demokratische Praxis
Besonders stark wird das Buch, wenn es politisch wird. Pörksen fragt: Wie erreicht man Menschen, die man nicht mehr erreicht? Seine Antwort ist unbequem: Nicht durch lautere Argumente, sondern durch ein Zuhören, das dem Anderen nicht sofort widerspricht, sondern ihn als Gesprächspartner ernst nimmt – auch wenn man seine Ansichten ablehnt.
Zuhören heißt für ihn nicht Nachgeben, sondern Aushalten. Nicht Anpassung, sondern radikale Offenheit. Und letztlich: den Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden, wo Polarisierung jede Verständigung verhindert.
Ein Gegenmittel zur Gereiztheit
Bernhard Pörksen gelingt mit Zuhören ein kluges, ruhiges, tiefgründiges Buch. Es liest sich wie eine Fortsetzung seiner Analyse der „gereizten Gesellschaft“ – diesmal jedoch mit einem deutlich normativen Impuls. Der Text ist durchzogen von leisen Appellen, eindringlichen Beispielen und der festen Überzeugung, dass echte Kommunikation möglich bleibt – selbst in zersplitterten Zeiten.
Seine Stärke ist der Ton: zugewandt, reflektiert, und doch klar in der Haltung. Zuhören ist kein Ratgeber im klassischen Sinn, sondern ein Denkangebot für alle, die im Gespräch mehr sehen als ein rhetorisches Duell. Ein Buch, das Mut macht, leiser zu werden – und dadurch vielleicht mehr zu sagen.
![]() | Bernhard Pörksen Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen Carl Hanser Verlag erschienen im Januar 2025 336 Seiten, 24,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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