Wie beim Kolonialismus 1.0 ist auch bei der Neuauflage die Welt
in Gewinner und Verlierer aufgeteilt,
und auch diesmal sitzen die Verlierer im Globalen Süden.
(Bild: Buchcover/C.H. Beck Verlag)
Im Silicon Valley beginnt der Fortschritt – und in afrikanischen Minen, indischen Klickfabriken oder südamerikanischen Datenzentren endet er. So zumindest schildern es Ingo Dachwitz und Sven Hilbig in ihrem Buch Digitaler Kolonialismus. Was wie eine gewagte These klingt, wird bei näherem Hinsehen zur unbequemen Wahrheit. Während im globalen Norden über die Chancen der Digitalisierung debattiert wird, zahlen Menschen im Süden den Preis – durch die Ausbeutung der Arbeit, den Raubbau an den Ressourcen und den Verlust der Autonomie.
Eine unsichtbare Grenze im Netz
Der Begriff „digitaler Kolonialismus“ wirkt zunächst abstrakt. Doch Dachwitz und Hilbig füllen ihn mit Leben. Sie beschreiben, wie Tech-Giganten wie Google, Meta oder Amazon im digitalen Raum Machtstrukturen etablieren, die kolonialen Mustern des 19. und 20. Jahrhunderts folgen: Monopole entstehen, lokale Alternativen werden verdrängt, Daten werden extrahiert wie einst Rohstoffe. Und wie damals verlaufen die unsichtbaren Grenzen nicht zwischen Staaten, sondern entlang ökonomischer und technologischer Abhängigkeiten.
Klickarbeit und Kobalt
Besonders eindrücklich wird das Buch, wenn es konkrete Beispiele liefert: etwa von Menschen, die für einen Hungerlohn gewalttätige Inhalte aus sozialen Netzwerken löschen – damit wir sie nicht sehen müssen. Oder von den oft übersehenen Lieferketten, die notwendig sind, um unsere Smartphones mit Energie und Rechenleistung zu versorgen. Ohne Kobalt aus dem Kongo keine E-Autos, ohne Clickworker aus Nairobi keine KI-Modelle – das ist die harte Realität hinter dem smarten Fortschrittsversprechen.
Zwischen den Fronten
Digitalisierung, das zeigen die Autoren, ist längst kein neutrales Instrument mehr. Sie ist zum Schauplatz geopolitischer Interessen geworden. Der Globale Süden, so die These, wird dabei nicht zum Subjekt, sondern zum Objekt der Digitalpolitik. Wer kontrolliert digitale Infrastrukturen? Wer bestimmt die Spielregeln? Länder wie China und die USA ringen längst um Einflusszonen, während viele Staaten des Südens in technologischer Abhängigkeit gefangen bleiben.
Der Preis des Fortschritts
Dachwitz und Hilbig verzichten auf Empörung, aber nicht auf Klarheit. Sie machen deutlich, dass die aktuellen Machtverhältnisse im Netz weder zufällig noch naturgegeben sind. Vielmehr profitieren die einen, weil die anderen verlieren. Es geht nicht nur um Technik, sondern um Gerechtigkeit, um Teilhabe, um Menschenwürde. Und damit letztlich um die Frage, wie eine faire digitale Zukunft aussehen könnte.
Perspektiven für eine gerechte Digitalisierung
Trotz aller Kritik bleibt das Buch nicht bei der Problembeschreibung stehen. Es zeigt Ansätze, wie sich eine gerechtere digitale Welt denken lässt – etwa durch lokale Datenzentren, digitale Selbstbestimmung oder transparente Lieferketten. „AI will not fix it“, schreiben die Autoren. Wohl aber politischer Wille, globale Solidarität und der Mut, die Digitalisierung neu zu denken.
![]() | Ingo Dachwitz, Sven Hilbig, Digitaler Kolonialismus Ersch. März 2025 Rotpunktverlag 240 S., 26,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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