Dass die sogenannten „Inocles“ aus DNA-Elementen so lange unentdeckt blieben, liegt nicht am mangelnden Interesse, sondern an technischen Hürden bei der Sequenzierung.
(Bild: Redakton/PiPaPu)
Wer morgens Zähne putzt, denkt selten daran, dass er dabei auch an einem der größten biologischen Geheimnisse des Körpers vorbeistreift. Doch Forschende der Universität Tokio haben nun in Speichelproben eine Entdeckung gemacht, die selbst Experten überrascht: sogenannte Inocles, gigantische DNA-Elemente, die bislang im Verborgenen existierten. Sie könnten erklären, wie Bakterien in der feuchten, wechselhaften Umgebung des Mundes überleben – und vielleicht sogar Einfluss auf unsere Gesundheit nehmen.
Ein verborgenes Kapitel im Mundmikrobiom
Das menschliche Mikrobiom ist seit Jahren Gegenstand intensiver Forschung. Meist richtet sich der Blick auf den Darm, doch auch der Mund ist ein komplexes Ökosystem. Hier tummeln sich hunderte Bakterienarten, die im ständigen Wettbewerb und Austausch stehen. „Wir wissen, dass es viele verschiedene Bakterien im oralen Mikrobiom gibt, aber viele ihrer Funktionen sind noch unbekannt“, erklärt Projektforscher Yuya Kiguchi. Seine Neugier führte zum Fund der Inocles – DNA-Segmente, die nicht im Hauptchromosom der Bakterien liegen, sondern daneben existieren. Kiguchi vergleicht sie mit „Fußnoten in einem Buch“, die zusätzliche Informationen liefern.
Technik, die Grenzen verschiebt
Dass Inocles so lange unentdeckt blieben, liegt nicht am mangelnden Interesse, sondern an technischen Hürden. Konventionelle Sequenzierungen zerstückeln DNA in kleine Fragmente, aus denen sich große Strukturen nicht zusammensetzen lassen. Erst moderne Langzeit-Sequenzierungen ermöglichten, längere Abschnitte auszulesen. Eine entscheidende Rolle spielte die Methode preNuc, entwickelt von Koautorin Nagisa Hamamoto. Damit wurde menschliche DNA gezielt aus den Speichelproben entfernt, sodass die bakteriellen Sequenzen sichtbar wurden. Zum ersten Mal gelang es, vollständige Inocle-Genome zusammenzusetzen – vor allem bei Streptococcus salivarius, einem typischen Bewohner der Mundflora.
Giganten der Genetik
Die Ergebnisse überraschten selbst erfahrene Genetiker. „Die durchschnittliche Genomgröße von Inocles liegt bei 350 Kilobasenpaaren. Das macht sie zu den größten extrachromosomalen Elementen im menschlichen Mikrobiom. Plasmide erreichen höchstens einige Dutzend Kilobasenpaare“, so Kiguchi. Ihre Größe verleiht den Inocles ein beeindruckendes Repertoire an Genen – darunter solche für den Schutz vor oxidativem Stress, die Reparatur von DNA-Schäden oder die Stabilisierung der Zellwand. All dies könnte entscheidend sein, damit Bakterien den schwankenden Bedingungen im Mund trotzen – von pH-Veränderungen durch Essen bis hin zu mechanischem Stress beim Kauen.
Von der Mundhygiene zur Medizin
Der nächste Schritt ist klar: Inocle-haltige Bakterien müssen stabil kultiviert werden, um ihre Funktionen genauer zu untersuchen. Könnten sie zwischen Menschen übertragen werden? Welche Rolle spielen sie bei Karies oder Zahnfleischentzündungen? Und haben sie vielleicht sogar einen Zusammenhang mit schweren Erkrankungen? Kiguchi sieht großes Potenzial: „Wir schätzen, dass 74 Prozent aller Menschen Inocles besitzen. Und es gibt Hinweise, dass sie als Marker für Krankheiten wie Krebs dienen könnten“. Sollte sich das bestätigen, wären Inocles nicht nur ein biologisches Kuriosum, sondern ein möglicher Schlüssel für Diagnose und Therapie.
Ein neues Fenster in die Mikrowelt
Noch sind viele Inocle-Gene uncharakterisiert. Künftig sollen Laborexperimente mit Computermodellen kombiniert werden, etwa mit Hilfe von AlphaFold, um ihre Strukturen und Aufgaben zu entschlüsseln. Das Bild, das sich abzeichnet, ist faszinierend: Inocles könnten eine Art „Gen-Reservoir“ sein, das Bakterien zusätzliche Fähigkeiten verleiht. Dass diese Elemente so lange unentdeckt blieben, zeigt zugleich, wie lückenhaft unser Wissen über die eigene Biologie ist. Mit jeder neuen Methode öffnet sich ein weiteres Fenster in die Mikrowelt des Körpers – und es scheint, als habe der Mund noch viele Geschichten zu erzählen.
Kurzinfo: Riesige DNA-Elemente im Mundmikrobiom
- Entdeckung: Inocles, bislang unbekannte extrachromosomale DNA im Mund.
- Fundort: Speichelproben, untersucht an der Universität Tokio.
- Technik: moderne Langzeit-Sequenzierung, Methode preNuc zur Entfernung menschlicher DNA.
- Größe: Ø 350 Kilobasenpaare – weit größer als bekannte Plasmide.
- Gene: Schutzfunktionen, DNA-Reparatur, Zellwand-Stabilität.
- Wirt: vor allem Streptococcus salivarius, ein verbreitetes Mundbakterium.
- Verbreitung: geschätzt bei 74 Prozent der Menschheit.
- Bedeutung: mögliche Rolle bei Karies, Zahnfleischentzündung und als Biomarker.
- Forschung: Kombination aus Laborexperimenten und KI-gestützten Simulationen.
- Perspektive: neues Verständnis für das Zusammenspiel von Mensch und Mikrobiom.
Originalpublikation
Yuya Kiguchi et al., Giant extrachromosomal element “Inocle” potentially expands the adaptive capacity of the human oral microbiome, Nature Communications, https://doi.org/10.1038/s41467-025-62406-5
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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