Die Rillen von Quahog-Muscheln – vergleichbar mit Jahresringen von Bäumen – deuten darauf hin, dass Meeresströmungen im Nordatlantik in den letzten Jahrzehnten zunehmend instabil geworden sind.
(Bild: Paul Butler)
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In den Tiefen des Nordatlantiks liegt ein Klima-Gedächtnis der Erde – fein gerillt, kalkweiß und still. Die Muscheln, die dort leben, speichern in ihren Schalen Jahr für Jahr Informationen über Temperatur, Nährstoffe und Strömungen. Nun könnten uns diese stillen Chronisten vor etwas warnen, das die Klimaforschung seit Langem befürchtet: Das atlantische Strömungssystem könnte seine Stabilität verlieren.
Die Muscheln, die Geschichte schreiben
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der University of Exeter hat die Schalen von Quahog-Muscheln – langlebige Tiere, die über 500 Jahre alt werden können – und von Hundemuscheln untersucht. Ihre Schichten wirken wie Baumringe des Meeres: Jede Lage steht für ein Jahr, jede Abweichung spiegelt Umweltveränderungen wider. „Wir haben keine ozeanischen Beobachtungen, die Jahrhunderte zurückreichen, aber die Bänder in Muschelschalen liefern uns eine ununterbrochene jährliche Aufzeichnung“, erklärt Dr. Beatriz Arellano Nava vom Global Systems Institute der Universität Exeter.
Diese natürlichen Archive erlauben es, Veränderungen in großen Strömungssystemen wie der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation (AMOC) und dem Subpolaren Wirbel (SPG) über lange Zeiträume hinweg zu rekonstruieren. Beide Systeme regulieren, wie Wärme und Nährstoffe im Atlantik verteilt werden – und prägen so das Klima von Europa bis Westafrika.
Warnsignale aus dem Ozean
Die Forschenden fanden deutliche Hinweise auf einen sogenannten „Stabilitätsverlust“. „Wenn ein System stabil ist, gibt es zwar Schwankungen – aber nach einer Veränderung kehrt es rasch zum Normalzustand zurück,“ erklärt Professor Paul Halloran, Mitautor der Studie. „Wenn ein System jedoch destabilisiert ist, erholt es sich langsamer – das kann ein Zeichen für einen bevorstehenden Kipppunkt sein.“
In den Daten tauchten zwei Phasen solcher Destabilisierung auf: eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts und eine zweite, stärkere ab etwa 1950, die bis heute anhält. Der erste Umbruch, so die Forschenden, könnte den damals beobachteten Temperaturanstieg in der Arktis und im Nordatlantik mit ausgelöst haben – ein frühes Warnzeichen, das lange übersehen wurde.
Ein System verliert seine Balance
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Nordatlantik in den letzten Jahrzehnten zunehmend instabil geworden ist. Noch wissen die Forschenden nicht, welche Komponente – AMOC oder SPG – am stärksten betroffen ist. Doch die Tendenz ist eindeutig: Das Strömungssystem reagiert träger auf Veränderungen.
„Unsere Resultate liefern unabhängige Belege dafür, dass der Nordatlantik an Stabilität verloren hat – ein Hinweis darauf, dass ein Kipppunkt näher rücken könnte,“ sagt Arellano Nava. Was genau diesen Prozess antreibt, bleibt unklar. Wahrscheinlich spielt jedoch das Schmelzen der Polkappen eine Schlüsselrolle. Süßwasser, das ins Meer gelangt, stört das Gleichgewicht der Dichte und damit die großen Strömungen.
Was ein Kollaps bedeuten würde
Ein Zusammenbruch der AMOC wäre ein globales Schockereignis. Er könnte Nordwesteuropa deutlich abkühlen, tropische Regenzonen verschieben und Wetterextreme in der gesamten Nordhalbkugel verstärken. Selbst ein teilweises Abschwächen des subpolaren Wirbels würde schon genügen, um Sturm- und Niederschlagsmuster zu verändern.
„Da diese Zirkulationssysteme miteinander verbunden sind, wissen wir nicht, ob die AMOC, der SPG oder beide die Signale treiben, die wir sehen – aber jeder Kipppunkt hätte enorme Folgen für das Klima,“ betont Arellano Nava. Und sie fügt hinzu: „Das Schmelzen des Polareises trägt zweifellos dazu bei, die Strömungen zu schwächen und sie einem Kipppunkt näherzubringen. Die rasche Reduktion von Treibhausgasen ist der einzige Weg, solche Kipppunkte zu verhindern.“
Kurzinfo: Kipppunkt im Atlantik – was die Muscheln verraten
- Studie der University of Exeter, veröffentlicht in Science Advances
- Forschende analysierten Wachstumsringe von Quahog- und Hundemuscheln
- Lieferten Daten über 500 Jahre ozeanischer Bedingungen
- Hinweise auf zwei Destabilisierungsphasen: um 1900 und ab 1950
- Belege für zunehmende Instabilität im Nordatlantik
- Mögliche Bedrohung: Kollaps der AMOC-Strömung
- Folgen: Abkühlung Europas, Extremwetter, veränderte Niederschläge
- Ursachen: Eisschmelze, Süßwasserzufluss, Klimawandel
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Originalpublikation:
Beatriz Arellano Nava et al.,
Recent and early twentieth century destabilization of the subpolar North Atlantic recorded in bivalves.
in: Science Advances (3-Oct-2025 )
DOI: 10.1126/sciadv.adw3468
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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