Wetterstation wird auf dem Glacier de Corbassière in den Schweizer Alpen: Je heißer das Klima wird, desto mehr kühlen Gletscher ihr eigenes Mikroklima und die lokale Umgebung im Tal ab – doch dieser Effekt hält nicht auf Dauer, denn die Eisfläche schrumpft weiter.
(Bild: Pascal Buri )
Auf dem Glacier de Corbassière in der Schweiz weht ein eisiger Wind, obwohl es August ist. 17 Grad in der Sonne, doch am Boden knirscht gefrorener Schnee. Der Glaziologe Thomas Shaw erinnert sich gut an diesen Tag. Hier oben, 2.600 Meter über dem Meer, misst er die Temperatur der Gletscherhaut – und die einer Welt, die langsam ihre Kälte verliert.
Gletscher als letzte Klimaregulatoren
Während sich die Erde aufheizt, kämpfen Gletscher um ihre eigene Kühlung. Ihre Oberfläche erzeugt lokale Kaltluft, die Hänge hinabströmt und Täler abkühlt. Noch gelingt es ihnen, damit den Folgen der Erwärmung kurzzeitig entgegenzuwirken. „Je heißer das Klima wird, desto mehr kühlen Gletscher ihr eigenes Mikroklima und die lokale Umgebung im Tal ab,“ erklärt Shaw, Postdoktorand in der Forschungsgruppe von Francesca Pellicciotti am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). „Dieser Effekt wird jedoch nicht lange anhalten. Vor der Mitte des Jahrhunderts wird es zu einer Trendwende kommen.“
Diese Trendwende – der Moment, in dem sich die Gletscher wieder vollständig an die steigenden Temperaturen „ankoppeln“ – wird laut Studie zwischen 2030 und 2040 eintreten. Dann verlieren sie ihre Fähigkeit zur Selbstkühlung und schmelzen ungebremst.
Wenn Kälte zur Illusion wird
Die Pellicciotti-Gruppe hat einen einzigartigen Datensatz geschaffen, der 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit umfasst – von den Alpen bis zum Himalaya. Über 169 sommerlange Messkampagnen zeigen, wie stark die Oberflächentemperaturen von der Umgebung abweichen.
In den Hochgebirgen Asiens beobachteten die Forschenden ein besonders eindrucksvolles Phänomen: „Die Gletscher reagieren auf die Erwärmung der Luft im Sommer mit einem stärkeren Temperaturaustausch an der Oberfläche,“ erläutert Pellicciotti. „Diese großen, dichten Kaltluftmassen strömen dann unter dem Einfluss der Schwerkraft die Hänge hinunter – ein Phänomen, das als ‚katabatische Winde‘ bezeichnet wird.“
Doch diese Abkühlung ist trügerisch. Sie signalisiert keinen Schutz, sondern einen verzögerten Zusammenbruch. Denn je stärker der Temperaturunterschied, desto intensiver arbeitet der Gletscher gegen die Erhitzung – und desto schneller verbraucht er seine eigene Stabilität.
Wissenschaft mit globaler Perspektive
Um den Selbstkühlungsmechanismus besser zu verstehen, kombinierte Shaw die weltweit verfügbaren Datensätze und entwickelte daraus ein statistisches Modell. „Wir haben Daten aus früheren und aktuellen Projekten zusammengetragen, sie mit veröffentlichten und unveröffentlichten Beobachtungen anderer Gruppen gepoolt und die physikalischen Prozesse neu bewertet,“ sagt Shaw. Das Ergebnis: Die Temperatur nahe der Gletscheroberfläche stieg im Mittel nur um 0,83 Grad Celsius, wenn die Umgebungstemperatur um ein Grad zunahm. Diese „Entkopplung“ ist der Beweis für die temporäre Selbstkühlung – aber auch ihr Ablaufdatum.
Denn die Forscher zeigen: Sobald der Eisverlust so weit fortgeschritten ist, dass die Gletscher dünner und fragmentierter werden, reißt diese Entkopplung ab. Die Gletscher „rekuppeln“ sich – sie verlieren ihre isolierende Wirkung und werden zu passiven Opfern der Atmosphäre.
Zwischen Akzeptanz und Anpassung
Das Fazit der Forschenden fällt ernüchternd aus. „Bis dahin werden sich die erheblich geschwächten Gletscher wieder an die sich stetig erwärmende Atmosphäre ‚ankoppeln‘ und damit ihr Schicksal besiegeln,“ so Shaw. Doch in der Erkenntnis liegt auch Handlungsspielraum. „In dem Bewusstsein, dass die Selbstkühlung der Gletscher noch etwas länger anhalten wird, könnten wir etwas mehr Zeit gewinnen, um unsere Wassermanagementpläne für die nächsten Jahrzehnte zu optimieren.“
Denn für viele Regionen – vom Himalaya über die Anden bis zu den Alpen – sind Gletscher lebenswichtige Süßwasserreserven. Ihre Schmelze bedroht nicht nur Landschaften, sondern auch Landwirtschaft, Energieversorgung und Trinkwasser.
Jedes Zehntelgrad zählt
Pellicciotti und Shaw wissen: Der Kampf gegen den Eisverlust ist verloren, wenn die globale Erwärmung ungebremst anhält. „Wir müssen den unvermeidbaren Eisverlust akzeptieren und unsere gesamten Anstrengungen darauf konzentrieren, die weitere Erwärmung des Klimas zu begrenzen,“ fordert Shaw. Geoengineering, also technische Eingriffe wie künstliche Wolken oder das Abdecken von Gletscherflächen, seien reine Symbolpolitik. „Das ist so, als würde man ein teures Pflaster auf eine Schusswunde kleben.“
Trotz aller Dramatik endet die Studie nicht mit Resignation, sondern mit einem Aufruf: Der Rückzug der Gletscher ist unaufhaltsam, aber die Geschwindigkeit lässt sich beeinflussen. „Jedes Zehntelgrad zählt,“ sagt Shaw – und meint damit nichts weniger als das Überleben ganzer Ökosysteme.
Kurzinfo: Gletscher verlieren ihre Selbstkühlung
• Studie des Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
• Forschungsleitung: Francesca Pellicciotti, Erstautor Thomas Shaw
• Datensatz von 350 Wetterstationen auf 62 Gletschern weltweit
• „Peak Cooling“ zwischen 2030 und 2040 prognostiziert
• Danach beschleunigte Schmelze und Rückkopplung an Erwärmung
• Besonders starker Effekt im Himalaya durch katabatische Winde
• Daten aus 25 Jahren Beobachtungen
• Folgen: Rückgang der globalen Süßwasserreserven
Originalpublikation:
Thomas E. Shaw et al.,
Mountain Glaciers will Recouple to Atmospheric Warming Over the 21st Century.
In: Nature Climate Change. (2025)
DOI: 10.1038/s41558-025-02449-0
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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