Plastikmüll wird über Flüsse ins Meer gespült, und wird so zur globalen Belastung für die marinen Ökosysteme, erst als Müllstrudel, dann als Mikroplastik in der Nahrungskette.
(Bild: Redaktion/PiPapu)
Wer zahlt, darf verschmutzen – so lässt sich das Prinzip der sogenannten Plastic Credits zugespitzt beschreiben. Konzerne finanzieren mit ihrem Geld Projekte, die Plastikmüll einsammeln, und erhalten dafür eine Art moralisches Freifahrtticket für ihre eigene Produktion. Was nach pragmatischem Umweltschutz klingt, birgt jedoch erhebliche Risiken. Ein internationales Forschungsteam zeigt nun in der Fachzeitschrift One Earth, dass diese Form der Plastikkompensation nicht nur ineffektiv sein kann – sondern das Problem unter Umständen noch verschärft.
Greenwashing statt Reduktion
Über 460 Millionen Tonnen Kunststoff produziert die Menschheit jedes Jahr. Die meisten davon landen früher oder später in der Umwelt, im Meer, in Böden oder in der Atemluft. Plastic Credits sollen dieses Desaster abmildern: Für jede Tonne eingesammelten Plastiks können Unternehmen sich eine Gutschrift sichern, die ihren „Plastik-Fußabdruck“ ausgleichen soll. Doch die Rechnung geht nicht auf. „In der Regel werden diese Gutschriften für jede Tonne Plastik vergeben, die aus der Umwelt oder dem Abfallstrom zurückgewonnen wird“, erklärt Dr. Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut. „Unser Artikel zeigt jedoch, dass solche Gutschriften kein geeigneter Ansatz sind, um die Plastikverschmutzung zu verringern oder Maßnahmen zur Reduzierung zu finanzieren“. In vielen Fällen werden Tätigkeiten zertifiziert, die ohnehin stattgefunden hätten – das Prinzip der „Additionalität“ wird unterlaufen.
Schlupflöcher statt Systemwandel
Auch der langfristige Nutzen bleibt fraglich. Plastik, das gesammelt wird, ist nicht zwangsläufig dauerhaft aus der Umwelt entfernt. Oft wird es verbrannt oder landet in minderwertigen Recyclingprozessen. Schutzmechanismen für lokale Gemeinschaften fehlen häufig. „Plastic Credits sind eine fehlgeleitete Lösung, die Greenwashing ermöglichen und gleichzeitig Transparenz und Verantwortlichkeit umgehen können“, kritisiert Prof. Andrea Bonisoli-Alquati von der California State Polytechnic University. Hinzu kommt: Die einfache „Tonne für Tonne“-Logik verkennt die Komplexität von Plastik. Eine Tonne klarer PET-Flaschen ist nicht dasselbe wie eine Tonne multischichtiger Verbundverpackungen mit toxischen Zusätzen. „Dieser Ansatz übersieht die enorme Vielfalt in der Zusammensetzung von Kunststoffen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit“, so Sangcheol Moon, Umweltforscherin an der University of California, Berkeley.
Fehlende Standards, falsche Signale
Während sich CO₂-Emissionen standardisiert messen und vergleichen lassen, fehlt bei Kunststoffen eine einheitliche Metrik. Es gibt kein „Plastikäquivalent“, das die toxikologischen, ökologischen und sozialen Wirkungen adäquat abbildet. Zudem könnten Plastic Credits kontraproduktiv auf die Gesetzgebung wirken: Werden sie als Teil der erweiterten Herstellerverantwortung anerkannt, schwächen sie Preissignale und unterlaufen ambitionierte Politikinstrumente wie Plastiksteuern oder Designvorgaben.
„Wenn wir die Plastikverschmutzung ernsthaft beenden wollen, dürfen wir nicht länger so tun, als könnten wir den Schaden ausgleichen“, betont Bonisoli-Alquati. „Stattdessen müssen wir die Produktion begrenzen und Konzerne dafür verantwortlich machen, die sozialen Kosten zu übernehmen, die sie mit ihrer Plastikverschmutzung verursachen.“
Von der Tonne zur Verantwortung
Das eigentliche Ziel müsse sein, weniger Plastik herzustellen – nicht, es im Nachhinein aufwendig zu kompensieren. Doch solange Plastic Credits als akzeptiertes Mittel gelten, verschieben sie das Problem: vom Verursacher zu denen, die es ohnehin schon tragen. Informelle Müllsammler, häufig ohne soziale Absicherung, werden so Teil eines globalen Systems, das ihre Risiken externalisiert.
„Bei den Projekten werden oft Aktivitäten gutgeschrieben, die auch ohne die Gutschriften stattgefunden hätten“, so Moon. In einigen Fällen hätten Kompensationssysteme sogar zu Gesundheitsschäden in lokalen Gemeinden geführt. Ohne klare Regeln, Standards und Kontrolle drohen also nicht nur Fehlinvestitionen – sondern reale Umwelt- und Sozialprobleme.
UN-Verhandlungen als Wendepunkt
Seit 2022 laufen unter dem Dach der Vereinten Nationen Verhandlungen über ein globales Abkommen gegen Plastikverschmutzung. Die Autorinnen und Autoren der Studie – Teil der „Scientists Coalition for an Effective Plastics Treaty“ – fordern, dass Plastic Credits dort nicht als legitimes Instrument etabliert werden. Denn statt einen Wandel herbeizuführen, könnten sie diesen ausbremsen.
Ob der UN-Plastikvertrag ein echter Durchbruch wird, entscheidet sich in den kommenden Monaten. Die nächste Verhandlungsrunde beginnt im August 2025 in Genf. Der Appell der Forschenden ist deutlich: Die Lösung liegt nicht in der Abrechnung – sondern in der radikalen Umgestaltung des Plastikkreislaufs.
Kurzinfo: Plastic Credits – kritisch betrachtet
- Definition: Zertifikate, mit denen Firmen ihre Plastikbilanz ausgleichen, z. B. durch Finanzierung von Sammelprojekten
- Herkunft: Ähnlich wie CO₂-Kompensationen, jedoch ohne vergleichbare Messstandards
- Kritikpunkte: Fehlende „Additionalität“, mangelnde Dauerhaftigkeit, kein einheitliches Bewertungssystem
- Risiken: Greenwashing, Schwächung politischer Instrumente, soziale und gesundheitliche Folgen in betroffenen Regionen
- Forschung: Studie in One Earth, Koautoren von AWI, UC Berkeley, Sorbonne u. a.
- UN-Kontext: Verhandlungen für ein globales Plastikabkommen laufen seit 2022 – nächste Runde August 2025 in Genf
- Ziel der Forschenden: Plastikproduktion reduzieren, nicht nur kompensieren – Verantwortung muss beim Verursacher bleiben
Originalpublikation:
Sangcheol Moon et al.,
Unpacking plastic credits: Challenges to effective and just global plastics governance,
in: One Earth, Volume 8, Issue 5101303 (May 16, 2025)
DOI: doi.org/10.1016/j.oneear.2025.101303.
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