Vor mehr als 50 Jahren warnte der „Club of Rome“ mit der Studie „Limits to Growth“ vor dem globalen ökologischen Kollaps im 21. Jahrhundert. Inzwischen sind viele der Prognosen eingetreten – die Zeit zum Handeln wird knapp, zeigt nun ene Earth4all-Studie, die Entwicklungsszenarien bis 2100 skizziert.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Was braucht es, damit wir in 75 Jahren noch gut auf diesem Planeten leben können? Keine technische Spielerei, kein utopisches Gedankenspiel, sondern eine nüchterne, wissenschaftlich fundierte Vision – und genau das ist das Ziel der Studie The Earth4All Scenarios: Human Wellbeing on a Finite Planet Towards 2100.
Die Forscherinnen und Forscher hinter der Untersuchung – unterstützt vom Club of Rome und anderen Mitgliedern der Initiative earth4all – simulieren mithilfe eines dynamischen Weltmodells zwei mögliche Zukünfte: das Szenario Too Little Too Late und das Gegenbild The Giant Leap. Der Unterschied zwischen beiden ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Ein Pfad ins Graue
Im „Weiter-so“-Szenario, das die Autoren als Too Little Too Late beschreiben, schlittern wir langsam, aber stetig in eine Welt wachsender Instabilität: Umweltzerstörung, soziale Spannungen und politische Ohnmacht verstärken sich gegenseitig. Es ist kein plötzlicher Kollaps, sondern ein schleichender Rückbau des globalen Wohlstands.
Dabei geht es nicht nur um Umwelt, sondern um das Zusammenspiel vieler Faktoren: Vertrauen, politische Handlungsmacht, soziale Kohäsion. Der entscheidende Punkt: Wer Menschen in Unsicherheit hält, nimmt sich selbst die Fähigkeit, große Herausforderungen kollektiv zu bewältigen.
„Wir haben uns eine einfache, aber drängende Frage gestellt: Kann menschliches Wohlergehen wachsen, während zugleich die planetaren Belastungsgrenzen sinken? Unser Modell sagt: Ja – aber nur, wenn wir die großen Kurskorrekturen wirklich umsetzen“, sagt Studienleiter Per Espen Stoknes von der BI Norwegian Business School.
Fünf Hebel für den Wandel
Das Modell identifiziert fünf zentrale Hebel, die gemeinsam einen systemischen Wandel auslösen könnten: die Bekämpfung von Armut, die Verringerung von Ungleichheit, die Stärkung der Rechte von Frauen sowie die Neugestaltung von Nahrungsmittel- und Energiesystemen.
„Außergewöhnlich“ nennen die Autorinnen und Autoren diese Turnarounds – nicht, weil sie unrealistisch wären, sondern weil sie weitreichendere Investitionen verlangen als in den letzten Jahrzehnten üblich. Doch ohne ein solches Umdenken bleiben strukturelle Probleme ungelöst und verschärfen sich weiter.
Soziale Spannung als Klimarisiko
Eine Innovation der Studie ist die Einführung zweier neuer Indizes: einem für soziales Wohlbefinden und einem für soziale Spannungen. Damit lassen sich Rückkopplungsschleifen sichtbar machen, etwa wie Ungleichheit zu Misstrauen führt – und Misstrauen wiederum politische Lähmung nach sich zieht.
„Indem wir soziale Spannungen und Wohlbefinden modellieren, zeigen wir, wie entscheidend gesellschaftliche Dynamiken für Klimaszenarien sind“, erklärt Mitautorin Nathalie Spittler von der Universität für Bodenkultur Wien. „Es geht nicht nur um Technologie oder Ökonomie. Wenn das Wohlbefinden sinkt und Spannungen steigen, wird der Wandel immer schwerer umzusetzen.“
Technisch machbar, politisch offen
Das optimistische Szenario der Studie – The Giant Leap – zeigt, dass eine Wende grundsätzlich möglich ist. Globale Kooperation, gezielte Investitionen und politische Führungsstärke vorausgesetzt, könnte es gelingen, die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten, soziale Ungleichheit zu verringern und das Wohlergehen weltweit zu stabilisieren.
„Der Giant Leap ist technisch möglich, aber ambitioniert“, so Stoknes. „Es bräuchte ein Maß an internationaler Zusammenarbeit und politischer Entschlossenheit, das wir bisher nicht gesehen haben. Aber dieser Wandel könnte eine lebenswerte Zukunft für die Menschheit sichern.“
Die Wahl bleibt unsere
Die Botschaft der Studie ist klar: Das Zeitfenster für Veränderung ist offen, aber es schließt sich schnell. Der Unterschied zwischen einem fragmentierten, krisenanfälligen Jahrhundert und einer Ära stabilen Wohlstands liegt im Handeln der Gegenwart.
Die Zukunft wird nicht von Algorithmen geschrieben – sondern von politischen Entscheidungen, gesellschaftlichem Zusammenhalt und dem Mut, alte Pfade zu verlassen. Und vielleicht liegt die größte Herausforderung darin, nicht nur das Klima, sondern auch unser Bild von Fortschritt zu verändern.
Earth4All – Was steckt dahinter?
- Neue Studie zu globalem Wohlergehen bis 2100
- Zwei Szenarien: Too Little Too Late vs. The Giant Leap
- Modelliert soziale, ökologische und wirtschaftliche Wechselwirkungen
- Fünf „außergewöhnliche Turnarounds“:
- Armut beenden
- Ungleichheit verringern
- Frauen stärken
- Ernährungssysteme transformieren
- Energiesysteme umbauen
- Neu eingeführt: Indizes für „soziale Spannung“ und „Wohlbefinden“
- Zentrale These: Ohne sozialen Zusammenhalt keine Klimatransformation
Originalpublikation:
Per Espen Stoknes et al.,
„The Earth4All scenarios: Human wellbeing on a finite planet towards 2100“,
in: Global Sustainability (4-Jul-2025),
DOI 10.1017/sus.2025.10013
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
Letzte Beiträge
Globalisierung4. Juli 2025Earth4all-Studie zum Jahr 2100: Welt im Gleichgewicht noch möglich
Künstliche Intelligenz2. Juli 2025Verborgener Verbrauch: wie viel Wasser KI wirklich kostet
Biodiversität30. Juni 2025Bis Ende des Jahrhunderts droht über 500 Vogelarten das Aussterben
Meeresforschung27. Juni 2025Überfischung lässt Ostseedorsche schrumpfen
Schreibe einen Kommentar