Die Forschenden nutzten ein „Online-Crowdcoding“-Verfahren, um Wahlprogramme systematisch zu durchforsten – bis zurück in die 1970er Jahre.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Ökonomische Ungleichheit gilt seit Jahrzehnten als einer der Sprengsätze moderner Gesellschaften. Sie schürt Unzufriedenheit, untergräbt Vertrauen in die Politik und begünstigt soziale Spannungen. Doch die Parteien, die im demokratischen Prozess für Antworten sorgen sollen, bleiben auffällig stumm. Eine neue Studie der Universität Konstanz zeigt: Selbst linke Parteien reagieren in ihren Wahlprogrammen nicht auf bereits bestehende Ungleichheit – sondern höchstens dann, wenn sich der Abstand zwischen Arm und Reich weiter vergrößert.
Wenn Reichtum unsichtbar bleibt
Alexander Horn, Hauptautor der Untersuchung und Leiter der Emmy Noether-Forschungsgruppe „Varieties of Egalitarianism“, bringt es auf den Punkt: „Gerade in Ländern, in denen die ökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung bereits stark ausgeprägt ist, ignorieren politische Parteien das Thema programmatisch weitgehend. Das trifft selbst auf linke Parteien zu.“
Die Forscher werteten über 850.000 Aussagen aus Wahlprogrammen in zwölf OECD-Demokratien zwischen 1970 und 2020 aus. Das Ergebnis ist ernüchternd: Einkommenszuwächse an der Spitze – also beim reichsten einen Prozent – finden in Wahlprogrammen kaum Widerhall. Selbst dort, wo linke Parteien traditionell Umverteilung fordern, verhallt die Debatte im Nichts.
Strukturelle Verzerrungen der Demokratie
Warum aber reagieren Parteien nicht stärker auf ein Phänomen, das die gesellschaftliche Stabilität bedroht? Horn verweist auf drei Ursachen: Erstens bleiben die Reichsten oft unsichtbar, abgeschottet in eigenen Lebenswelten. Zweitens scheitern ärmere Bevölkerungsgruppen an Mobilisierungshürden – sie haben weder die Lobbykraft noch die mediale Reichweite, ihre Interessen durchzusetzen. Drittens dominiert eine meritokratische Erzählung: Wer viel hat, verdiene es, weil er oder sie viel geleistet habe.
„Als Ursachen vermuten wir strukturelle Verzerrungen demokratischer Prozesse: Die reichsten Menschen in einer Gesellschaft bleiben für die Öffentlichkeit oft unsichtbar. Die ärmeren Bevölkerungsgruppen scheitern hingegen an Mobilisierungshürden. Außerdem gibt es die Tendenz, den ungleichen Status quo meritokratisch zu rechtfertigen“ erklärt Horn.
Die Ausnahme der Rechten
Besonders bemerkenswert ist der Befund, dass rechte Parteien in den untersuchten Ländern überhaupt nicht auf Ungleichheit reagieren – weder auf steigende Einkommensunterschiede noch auf ein bereits hohes Maß an Verteilungsungleichheit. Selbst wenn breite Teile der Bevölkerung unter Druck geraten, fehlt es an politischen Angeboten.
Linke Parteien wiederum handeln nur dann, wenn die Mittelschicht und die unteren Einkommen real zurückfallen. Das bedeutet: Erst wenn es zu spürbaren Verlusten kommt, wird das Thema Ungleichheit programmatisch aufgegriffen. Bestehende Verteilungsgefälle allein genügen nicht, um eine politische Dynamik auszulösen.
Ein blinder Fleck mit Folgen
Die Studie verdeutlicht eine strukturelle Schwäche demokratischer Systeme: Sie korrigieren Ungleichheit nicht automatisch, wie es gängige Annahmen nahegelegt haben. „Im Gegenteil, sie können Mechanismen hervorbringen, die Ungleichheit verfestigen – und das gilt sogar für linke Parteien und Regierungen“, resümiert Horn.
Das wirft Fragen für die Zukunft auf. Denn wenn die etablierten Parteien den wachsenden sozialen Spalt nicht ernsthaft adressieren, entsteht Raum für Populismus – oder für politische Bewegungen, die sich jenseits der traditionellen Programme organisieren. Dass Demokratien stabil bleiben, ist damit längst keine Selbstverständlichkeit mehr.
Politische Programme im Stresstest
Die Konstanzer Forscher nutzten ein neuartiges Online-Crowdcoding-Verfahren, um Wahlprogramme systematisch zu durchforsten. Die methodische Breite erlaubt erstmals einen Langzeitvergleich über fünf Jahrzehnte. So zeigt sich nicht nur ein aktuelles Versäumnis, sondern eine historische Konstante: Das Schweigen über Ungleichheit zieht sich wie ein roter Faden durch die Programmatik.
Der Befund ist unbequem. Er zwingt Parteien, sich zu fragen, ob sie den gesellschaftlichen Realitäten noch gerecht werden. Und er macht deutlich, dass ökonomische Fragen auch politische Fragen sind – und damit über die Stabilität demokratischer Systeme entscheiden können.
Kurzinfo: Langzeitvergleich von Parteiprogrammen
Untersuchungszeitraum: 1970–2020, 12 demokratische OECD-Länder
Datenbasis: 850.000 Aussagen in Wahlprogrammen
Methode: Online-Crowdcoding zur systematischen Auswertung großer Textmengen
Kernaussagen:
- Parteien reagieren nicht auf bestehende Ungleichheit, sondern nur auf Verschlechterungen
- Linke Parteien thematisieren Zugewinne des reichsten 1 Prozent nicht
- Rechte Parteien reagieren überhaupt nicht auf Ungleichheit
Folgen: Vertrauensverlust in Politik, gesellschaftliche Spannungen, Aufstieg populistischer Bewegungen
Bedeutung: Demokratien korrigieren ökonomische Ungleichheit nicht automatisch, sondern verfestigen sie womöglich
Originalpublikation:
Horn, A., Haselmayer, M., Klüser, K. J. (2025):
Why Inequalities Persist: Parties’ (Non)Responses to Economic Inequality, 1970–2020.
In: American Political Science Review.
DOI: 10.1017/S0003055425100907
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
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