Die Konstruktion erinnert an künstliche Korallen – nur dass hier alleine Blaualgen am Werk sind, um Kalkstein-Strukturen zu produzieren, deren Form ein vom Menschen bereitgestelltes Polymer-Gerüst vorgibt.
(Bild: Biennale di Venezia)
Ein Baustoff, der lebt, atmet und die Atmosphäre reinigt – was im Zeitalter des Stahlbetons noch wie eine ferne Utopie klingt, wird in Zürich bereits zur Realität. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der ETH hat ein Material entwickelt, das mithilfe von Cyanobakterien CO₂ bindet und gleichzeitig wächst. Der Clou: Es lässt sich formen, drucken – und es funktioniert.
Fotosynthese im Gelkörper
Im Zentrum der Entwicklung steht ein Hydrogel – ein durchlässiges Netzwerk aus Polymeren mit hohem Wassergehalt. Eingebettet darin: Cyanobakterien, auch als Blaualgen bekannt. Diese Mikroorganismen betreiben Photosynthese, sie entziehen der Luft Kohlendioxid, wandeln es in Biomasse um – und lagern darüber hinaus sogar mineralischen Kohlenstoff ein.
„Als Baumaterial könnte er in Zukunft helfen, CO₂ direkt in Gebäuden zu speichern“ , sagt Mark Tibbitt, Professor für Makromolekulares Engineering an der ETH Zürich und Leiter des Projekts. Die Blaualgen verwandeln die chemische Umgebung so, dass feste Karbonate wie Kalk ausfallen – eine zusätzliche Kohlenstoffsenke, die im Gegensatz zur Biomasse langfristig stabil bleibt.
Laborversuche zeigen: Pro Gramm Material werden bis zu 26 Milligramm CO₂ gespeichert, der Großteil davon in mineralischer Form. Zum Vergleich: Recyclingbeton kommt auf rund sieben Milligramm.
Von Mikroorganismen zu Mikroarchitektur
Das lebende Material wächst – doch gezähmt. 3D-Druck ermöglicht eine präzise Geometrie, die Licht und Nährstoffe optimal verteilt. So bleiben die Cyanobakterien über ein Jahr hinweg aktiv. Co-Erstautorin Dalia Dranseike erklärt: „So kreierten wir Strukturen, die nur mit einem kleinen Teil in der Nährflüssigkeit stehen und diese passiv durch Kapillarkräfte im ganzen Körper verteilen“.
Die gezielte Gestaltung schafft nicht nur stabile Wachstumsbedingungen, sondern verändert auch das Material selbst: Die mineralischen Einlagerungen verstärken es mechanisch – ganz ohne klassische Härtung oder Zusatzstoffe.
Vom Labor auf die Biennale
Wie lässt sich dieses lebende Material auf reale Gebäude skalieren? Eine Antwort kommt aus Venedig. Im Rahmen der Architekturbiennale hat Andrea Shin Ling, Architektin und Biodesignerin, das Projekt auf drei Meter hohe Installationen ausgeweitet. Die cyanobakteriellen Strukturen sind so konzipiert, dass sie CO₂ absorbieren wie eine ausgewachsene Kiefer.
„Besonders herausfordernd war dabei, den Fertigungsprozess vom Laborformat auf Raumdimensionen zu skalieren“ , sagt Ling, die am ETH-Lehrstuhl für Digitale Bautechnologien promoviert. Ihre Dissertation befasst sich mit Biofabrikation im architektonischen Maßstab.
Fassaden als grüne Lunge
Auch in Mailand ist das Konzept angekommen. Bei der Triennale zeigt die Installation Dafne’s Skin, wie Mikroorganismen 3D-gedruckte Holzschindeln begrünen. Die organische Patina ist kein Makel, sondern Designelement – ein Zeichen der aktiven CO₂-Bindung und ästhetischen Transformation durch das Leben selbst. Tibbitt sieht großes Potenzial für die Bauindustrie: „In Zukunft wollen wir untersuchen, wie das Material als Beschichtung für Gebäudefassaden verwendet werden kann, um während des ganzen Lebenszyklus eines Bauwerks CO2 zu binden„.
Kurzinfo: Der lebende Baustoff im Überblick
Material:
Hydrogel mit Cyanobakterien – photosynthetisch aktiv, 3D-druckbar
CO₂-Bindung:
26 Milligramm CO₂ pro Gramm Material – deutlich mehr als bei vielen bio-basierten Verfahren
Funktionsweise:
CO₂ wird in Biomasse und zusätzlich als stabiler Kalk (Karbonat) gebunden
Mechanik:
Mineralische Einlagerungen härten das Material und verstärken es
Anwendung:
Als Fassadenbeschichtung, Baustein oder architektonisches Element denkbar
Forschungsumfeld:
ETH Zürich, Projekt ALIVE (Advanced Engineering with Living Materials)
Installationen:
„Picoplanktonics“ (Biennale Venedig) und „Dafne’s Skin“ (Triennale Mailand)
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
Letzte Beiträge
Arbeitswelt20. Juni 2025Feiertage streichen bringt nichts
Bauindustrie20. Juni 2025Atmende Häuser: lebender Baustoff bindet CO₂ und wächst mit
Klimaschutz19. Juni 2025Prompte Emissionen
Nachhaltigkeit17. Juni 2025Stroh statt Baumwolle
Schreibe einen Kommentar