[Buchtipp] Wenn die ganze Welt zum Rohstoff wird, der Mensch inklusive: Kate Crawfords „Atlas der KI“

[Buchtipp] Wenn die ganze Welt zum Rohstoff wird, der Mensch inklusive: Kate Crawfords „Atlas der KI“

Es beginnt nicht im Silicon Valley. Nicht in einem schicken Labor voller futuristischer Geräte, nicht in einer Szene, in der junge Männer in Hoodies revolutionäre Algorithmen auf Laptops tippen. Nein, Kate Crawford beginnt ihre Geschichte über Künstliche Intelligenz dort, wo andere aufhören hinzuschauen: in einem Lithium-Tagebau in Nevada. Wo Maschinen Erde fressen, Menschen schuften und die Landschaft sich in eine postindustrielle Mondlandschaft verwandelt. Hier, so Crawford, beginnt die KI – nicht als Magie, sondern als Materie.

Eine politische Landkarte der Intelligenz

Der Atlas der AI ist kein Technikbuch im klassischen Sinn. Es ist ein politisches, ein wirtschaftliches, ein philosophisches Buch – und ein zutiefst menschliches. Die australische Wissenschaftlerin, Forscherin bei Microsoft und Professorin in New York, entfaltet in sieben Kapiteln eine globale Landkarte der Künstlichen Intelligenz. Eine Karte, die weniger von Algorithmen handelt als von Machtstrukturen, von Rohstoffen, Arbeit und Kontrolle.

KI ist nicht neutral – sie ist gemacht

Crawfords zentrale These: Künstliche Intelligenz ist kein abstraktes Produkt reiner Logik, sondern ein sozio-technisches System, das auf Ressourcen, Menschen und politischen Entscheidungen basiert. Und das – so ihre warnende Botschaft – in seiner heutigen Form bestehende Ungleichheiten eher zementiert als überwindet.

Von Clickworkern, Rechenzentren und Gesichtserkennung

Sie erzählt von den Bergen an Energie, die KI-Modelle verschlingen. Von den Schattenindustrien der Datenannotation, in denen schlecht bezahlte Clickworker in Kenia oder auf den Philippinen maschinelles Lernen erst möglich machen. Von der angeblichen Objektivität von Gesichtserkennungssystemen, die doch rassistische Verzerrungen reproduzieren. Und von der illustren Allianz zwischen Konzernen, Militär und Politik, die sich in der Infrastruktur der „intelligenten Systeme“ manifestiert.

Eine Kartografin der digitalen Welt

Crawford nimmt dabei die Perspektive einer investigativen Kartografin ein. Sie sammelt, verknüpft, ordnet – und zeichnet ein Bild, das weit entfernt ist von der glatten Zukunftsvision vieler Tech-Konzerne. Ihre Sprache ist dabei klar, zugänglich und bildhaft. Statt technokratischer Jargon dominiert ein erzählender Ton, der Leserinnen und Leser einlädt, sich mit den Folgen der Automatisierung nicht nur rational, sondern auch emotional auseinanderzusetzen.

Ein Spiegel unserer Gesellschaft

Was den Atlas der AI so besonders macht, ist sein interdisziplinärer Anspruch. Crawford verbindet Erkenntnisse aus Technikforschung, Soziologie, Geografie, Ethik und Umweltwissenschaft – und zeigt damit, wie komplex die Verflechtungen hinter dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ tatsächlich sind. Sie fragt nicht: Was kann KI? Sondern: Wer baut sie, wer profitiert, wer zahlt den Preis?

Kein Fortschritt ohne Verantwortung

Am Ende bleibt ein nüchternes, aber kraftvolles Fazit: KI ist kein naturwüchsiger Fortschritt, sondern ein Projekt – gestaltbar, verhandelbar, politisch. Und genau deshalb sollten wir aufhören, sie nur durch die Brille des technologischen Machbaren zu betrachten. Sondern als das, was sie ist: ein Spiegel unserer Gesellschaft, mit all ihren Widersprüchen.

Crawfords Atlas ist kein Buch für Technikgläubige, sondern für alle, die hinter die glänzenden Oberflächen der Digitalisierung blicken wollen. Wer wissen will, woher unsere Maschinen kommen – und wohin sie uns führen könnten –, wird hier nicht nur Antworten, sondern auch viele neue Fragen finden.

Kate Crawford,
Atlas der KI.
Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien.

C.H. Beck,
erschienen August 2024,
336 S., 32 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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