Ein Paradebeispiel für die Stadt der kurzen Wege ist Paris, nicht nur im Buch, sondern auch in der Wirklichkeit: beraten von Moreno höchstpersönlich machte die Bürgermeisterin Anne Hidalgo das Konzept zur Chefinnensache.
(Bild: Coverdetail/Alexander Verlag)
Wer in der Großstadt lebt, kennt das Gefühl: Das Leben ist zersplittert. Die Arbeit liegt am anderen Ende der Stadt, die Schule ebenso, Arzt und Supermarkt sind nicht selten nur per Auto erreichbar. Was verloren geht, ist nicht nur Zeit – sondern Lebensqualität. Genau hier setzt Carlos Moreno an. In seinem nun erstmals auf Deutsch erschienenen Buch „Die 15-Minuten-Stadt. Ein Konzept für lebenswerte Städte“ formuliert der französisch-kolumbianische Stadtforscher eine Antwort auf die Herausforderungen des urbanen Alltags: eine Stadt, in der alles Wesentliche innerhalb eines Viertelstunde erreichbar ist – zu Fuß oder mit dem Rad.
Die Idee einer neuen Nähe
Das Konzept der 15-Minuten-Stadt ist einfach – aber gerade darin liegt seine Stärke. Moreno beschreibt es als eine Stadt der Nähe, der Vielfalt und der Beziehung. Es geht nicht darum, neue Stadtviertel zu bauen, sondern darum, Bestehendes neu zu organisieren. Der Supermarkt ums Eck, die Schule im Kiez, das Gesundheitszentrum auf dem Weg zur Arbeit: All das soll Teil eines Systems werden, das das Leben entschleunigt und den öffentlichen Raum zurückerobert. Moreno analysiert die Missstände moderner Stadtplanung: soziale Trennung, Verkehrslärm, Luftverschmutzung, Monofunktionalität. Und er zeigt Alternativen auf, die weltweit bereits umgesetzt werden – von Paris über Wien bis Seoul. Dabei bleibt er nicht theoretisch. Mit zahlreichen Praxisbeispielen und Illustrationen führt er durch Quartiere, die bereits nach diesem Modell umgestaltet wurden.
Paris als Versuchslabor
Ein zentrales Kapitel widmet sich der engen Zusammenarbeit mit Anne Hidalgo, der Bürgermeisterin von Paris. Sie machte die 15-Minuten-Stadt zum stadtplanerischen Leitbild ihrer zweiten Amtszeit. Moreno berichtet, wie Grundschulhöfe nachmittags als öffentliche Räume geöffnet wurden, wie Fahrbahnen zu Fahrradwegen wurden – und wie Bürgerbeteiligung ein zentrales Element dieser Transformation war. Dabei spart er nicht mit Selbstkritik: Nicht jedes Projekt ist geglückt, nicht jede Maßnahme unumstritten. Doch gerade diese Offenheit macht das Buch glaubwürdig. Moreno präsentiert keine dogmatische Vision, sondern ein flexibles Konzept, das sich anpassen lässt – an jede Stadt, jede Kultur, jede soziale Struktur.
Ein Handbuch für politische Praxis
Morenos Buch ist keine reine Theorie, sondern ein Werkzeugkasten für Praktikerinnen und Praktiker. Planer, Bürgermeisterinnen, Aktivistinnen – sie alle finden hier Argumente, Modelle und Strategien. Der Autor beschreibt, wie die 15-Minuten-Stadt zur Blaupause für eine ökologische Stadttransformation werden kann: weniger CO₂, weniger Lärm, mehr Grün.
Und das Buch macht Mut. Denn Moreno zeigt: Der Wandel ist möglich – und er hat bereits begonnen. Städte wie Melbourne oder Barcelona experimentieren mit Superblocks, Madrid mit autofreien Zonen, Berlin mit Kiezblocks. Auch in kleineren Städten beginnt das Nachdenken über Nähe, Zugänglichkeit und Gemeinwohl neu.
Kritik und Kontroverse
Natürlich bleibt das Konzept nicht ohne Widerspruch. Kritiker befürchten Gentrifizierung, Verdrängung oder eine romantisierende Sicht auf das Quartierleben. Moreno begegnet dem mit klaren Worten: „Die 15-Minuten-Stadt funktioniert nur, wenn sie inklusiv ist.“ Er plädiert für soziale Ausgewogenheit, bezahlbares Wohnen, öffentliche Teilhabe. Und macht deutlich, dass Urbanität nicht durch Verengung, sondern durch Vielfalt entsteht.
Ein Plädoyer für das Leben vor der Haustür
Am Ende ist dieses Buch mehr als ein stadtplanerisches Manifest. Es ist ein Appell an die Gesellschaft, das Urbane neu zu denken – nicht als technisches, sondern als menschliches Projekt. Moreno verbindet Analyse mit Vision, Statistik mit Empathie, Stadtplanung mit Alltag. Wer also wissen will, wie wir in Zukunft leben könnten – besser, grüner, gerechter –, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Nicht nur für Planende, sondern für alle, die in einer Stadt wohnen und sich mehr vom Leben in ihrer Nähe wünschen.
![]() | Carlos Moreno Die 15-Minuten-Stadt. Ein Konzept für lebenswerte Städte Übersetzung aus dem Französischen von Bettina Seifried erschienen 2024 Alexander Verlag Berlin 194 Seiten, 20,00 Euro |
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.
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