[Buchtipp] Prophet der Paranoia

[Buchtipp] Prophet der Paranoia

Mit literarischer Raffinesse zeichnet Emmanuel Carrère in „Ich lebe und ihr seid tot“ das Leben des visionären Sci-Fi-Autors Philip K. Dick nach. Der Roman ist Biografie, Zeitdiagnose und medienphilosophisches Gedankenexperiment zugleich.

(Bild: Coverdetail/Matthes & Seitz)


Eine Tür geht auf, aber was dahinter liegt, weiß man nie genau. In der Welt des Philip K. Dick verschwimmen Realität und Simulation, Sein und Schein, Ich und Andere. Emmanuel Carrère hat sich in Ich lebe und ihr seid tot diesem Schriftsteller gewidmet, der sein ganzes Werk der Frage verschrieb, was eigentlich „wirklich“ ist – und daran fast zerbrach.

Carrère, selbst ein Grenzgänger zwischen Fiktion und Wirklichkeit, schreibt kein klassisches Autorenporträt. Sein Buch ist weder rein Biografie noch bloß Nacherzählung, sondern eine literarische Beschwörung: Dick erscheint darin als ein moderner Mystiker – zwischen Droge, Depression und göttlicher Vision. Und Carrère als sein Zeuge.

Vom Plattenverkäufer zum Kultautor

Philip K. Dick, geboren 1928 in Chicago, war kein Genie im herkömmlichen Sinne. Er lebte oft in Armut, schrieb im Akkord, konsumierte Amphetamine wie andere Aspirin und hatte wechselnde Frauen, Wohnungen und Identitäten. Und doch wurde er einer der einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Filme wie Blade Runner, Total Recall oder Minority Report basieren auf seinen Geschichten.

Carrère beschreibt diesen Weg mit spürbarer Sympathie – und ohne falsche Romantisierung. Dick, das zeigt dieses Buch, war vor allem ein Getriebener: von seiner Kindheit, von der Angst vor Überwachung, vom Drang, die Wahrheit hinter der Welt zu entdecken. „In einem Amerika, das schon vor Jahrzehnten von Paranoia und Spaltung geprägt war“, so Carrère, entwickelte Dick eine Literatur des Zweifels.

Der Schriftsteller als Seismograph

Dabei war Dicks Werk seiner Zeit weit voraus. Seine Helden leben in virtuellen Realitäten, sprechen mit KIs oder zweifeln an der Echtheit ihrer Welt – Jahrzehnte bevor das Silicon Valley solche Konzepte ernst nahm. Wenn Dick 1977 in einer Rede behauptet, wir lebten in einer von einer fremden Intelligenz simulierten Welt, klingt das heute wie ein Vorgriff auf die Debatten um das „Simulation Argument“ von Nick Bostrom.

Carrère nimmt diese Ideen ernst. Er spürt ihren Ursprüngen nach, ihren Brüchen, ihrer Tragik. Denn bei aller Zukunftslust ist Dick kein gläubiger Technikfan, sondern ein Skeptiker. Seine Visionen entspringen nicht dem Labor, sondern einem inneren Riss. Drogen, psychotische Episoden, religiöse Offenbarungen – all das ist Teil seines Lebens und Schreibens. Carrère gelingt es, diese Brüche nicht zu glätten, sondern in eine spannungsgeladene Erzählform zu überführen.

Ich bin viele – und vielleicht gar nicht real

Der Roman ist dabei selbst wie ein Dick’sches Szenario: Perspektivwechsel, Zeitsprünge, innere Monologe und dokumentarische Passagen wechseln sich ab. Carrère bettet die Biografie in den kulturellen und politischen Kontext der USA der 60er und 70er Jahre: Vietnamkrieg, Kalter Krieg, Watergate, Kalifornien als Utopie und Abgrund zugleich.

Und er verwebt Dicks literarische Figuren mit dessen realer Biografie. Das führt zu Momenten, in denen man als Leser nicht mehr weiß: Ist das jetzt noch der Autor oder schon wieder eine Figur? Genau das, so Carrère, war auch Dicks Problem. Er hörte Stimmen, sah Zeichen, schrieb unter dem Einfluss einer Macht, die er Valis nannte – und glaubte irgendwann, ein Gesandter zu sein.

Carrère als Spiegel Philipp K. Dicks

Was das Buch so faszinierend macht, ist die Nähe zwischen Erzähler und Erzähltem. Emmanuel Carrère, der selbst immer wieder autofiktional arbeitet, erkennt in Dick eine Art dunklen Bruder: auch er getrieben, auch er auf der Suche nach Sinn im Fragment. In der französischen Originalausgabe von 1993 galt das Werk lange als Geheimtipp – jetzt ist es auf Deutsch wiederentdeckt worden, in einer Zeit, in der die großen Fragen Dicks aktueller scheinen denn je.

Carrère gelingt ein Roman über ein Leben, das von der Wahrheit besessen war – und gleichzeitig davon, dass sie möglicherweise gar nicht existiert. Wer dieses Buch liest, wird Dicks Werk anders sehen. Und vielleicht auch die Welt.


coverEmmanuel Carrère
Ich lebe und ihr seid tot
Die Parallelwelten des Philip K. Dick

Aus dem Franz. von Claudia Hamm
Matthes & Seitz,
ersch. 2025
364 Seiten, 28,00 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Proudly powered by WordPress