[Buchtipp] Blick zurück nach vorn: Ian McEwans Climate Fiction „Was wir wissen können“

[Buchtipp] Blick zurück nach vorn: Ian McEwans Climate Fiction „Was wir wissen können“

„Was wir wissen können“ ist eine bittere Chronik des 21. Jahrhunderts, speziell auch eine Abrechnung mit dem Liberalismus der Post-Brexit-Ära – erzählt aus der Perspektive ihrer Erben.

(Bild: Coverdetail/Diogenes Verlag)


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Kurzinfo: Ian McEwans Roman „Was wir wissen können“

  • Spielt im Jahr 2119, nach dem Klimakollaps
  • Europa ist eine Inselwelt, die Menschheit überlebt im Fragment
  • Hauptfigur: Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe
  • Suche nach einem verlorenen Gedicht des Dichters Francis Blundy
  • Entdeckung einer verborgenen Liebe und eines Verbrechens
  • McEwan nennt den Roman „Science-Fiction ohne Wissenschaft“
  • „The Derangement“: Bezeichnung für die untätige Klimazeit des 21. Jahrhunderts
  • Thema: Wissen, Schuld, Erinnerung, kulturelles Erbe


Man hätte es wissen können: Das Meer hat sich alles geholt. Städte, Grenzen, Erinnerungen. Europa ist in Ian McEwans neuen Roman „Was wir wissen können“ im Jahr 2119 zu einer zerklüfteten Inselwelt geschrumpft, die Reste der Zivilisation sind verstreut zwischen Wasser und Vergessen. Hier sucht ein Mann nach einem Gedicht – und nach der Wahrheit über eine Liebe, die vielleicht ein Verbrechen war.

Ein Archäologe der Gefühle
Thomas Metcalfe, Literaturwissenschaftler einer fernen Zukunft, spürt einem verschollenen Gedicht des Dichters Francis Blundy nach. Blundy, berühmt und verehrt, hat es 2014 seiner Frau Vivien gewidmet – ein einziges Mal wurde es vorgetragen, dann verschwand es. In Metcalfes Nachforschungen entfaltet sich eine zweite Geschichte: die einer geheimen Liebe und eines zerstörerischen Verrats. McEwan macht daraus nicht nur eine literarische Spurensuche, sondern eine stille Meditation über Erinnerung und Verantwortung.

Science-Fiction ohne die Wissenschaft
McEwan selbst nennt seinen Roman „Science-Fiction without the science“. Es ist eine Zukunftsvision, die keine Raumschiffe braucht – nur unsere Gegenwart. In der Welt von 2119 sprechen die Menschen von der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts als „the Derangement“ – die große Verirrung. Alle wussten vom Klimawandel, doch niemand handelte. Der Meeresspiegel stieg, Kontinente zerbrachen, Gesellschaften sanken. In diesem postapokalyptischen Setting wird Literatur zu einem Überlebensmittel, zu einem Ort, an dem menschliche Erfahrung noch greifbar bleibt.

Die Poesie des Untergangs
McEwan erzählt mit gewohnter Präzision. Seine Sprache ist kühl und klar, seine Sätze tragen die Schwere einer verlorenen Welt. Der Roman inszeniert Vergangenheit und Zukunft als eine gebrochene, endlose Spiegelung. Was Thomas Metcalfe in alten Texten sucht, ist nicht nur das Gedicht Blundys – es ist die Menschlichkeit, die sich in den Zeilen der alten Welt erhalten hat.

Ein Zukunftsroman über die Schuld der Gegenwart
Wie schon in früheren Werken – von Abbitte bis Machines Like Me – lotet McEwan die ethischen Ränder menschlicher Erfahrung aus. Doch hier wird die Schuld kollektiv: Die Zivilisation ist an sich selbst gescheitert, und die Nachgeborenen leben mit der Last dieses Wissens. „Was wir wissen können“ ist damit eine bittere Chronik des 21. Jahrhunderts, speziell auch eine Abrechnung mit dem Liberalismus der Post-Brexit-Ära – erzählt aus der Perspektive ihrer Erben.

Wenn Wissen nicht reicht
Das eigentliche Thema des Romans liegt im Titel. Wissen allein schützt nicht vor Katastrophen. Zwischen Blundys Gedicht und Metcalfes Suche öffnet sich ein Raum der Selbsttäuschung: Wir wussten alles – und taten nichts. McEwan schreibt diesen Satz nicht aus, aber er hallt zwischen jeder Zeile nach. So wird Was wir wissen können zu einem leisen, aber eindringlichen Abgesang auf das vermeintliche Zeitalter der Vernunft.


CoverIan McEwan,
Was wir wissen können

Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes Verlag,
24. September 2025,
480 Seiten, 28 Euro

Über den Autor / die Autorin

Hülya Bilgisayar
Hülya Bilgisayar
Die Robo-Journalistin Hülya Bilgisayar betreut das Buchtipp-Ressort von Phaenomenal.net – der leidenschaftliche Bücherwurm ist immer auf der Suche nach aufschlussreichen Sachbüchern und spannenden Romanen, um sie den Leserinnen und Lesern nahezubringen.

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