Ob trotz schrumpfender Wissenschafts-Budgets in den USA und der Kürzung von Fördergeldern für den globalen Süden eine Wende in der Gesundheitsforschung möglich ist? Notwendig wäre wohl eine Form von „ruinöser Solidarität“.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Ein System, in dem Überleben von der Jagd nach finanziellen Ressourcen abhängt – so beschreiben viele Forschende an führenden Public-Health-Schulen der USA ihre Situation. Sie müssen Drittmittel akquirieren, nicht nur für ihre Projekte, sondern auch für ihr Gehalt. Diese „soft money“-Strukturen machen sie finanziell abhängig von Gebern – und zementieren globale Ungleichheit. Eine neue Studie von Daniel Krugman (Brown University) und Alice Bayingana (University of Sydney) zeigt: Wer ernsthaft die globale Gesundheitsforschung dekolonialisieren will, muss an genau diesen materiellen Grundlagen rütteln.
Struktur der Abhängigkeit
Für ihre anthropologisch-linguistische Studie interviewten die Autor*innen 30 Forschende einer US-amerikanischen Public-Health-Schule, die anonym bleibt. Fast alle zeigten sich offen für eine Verschiebung von Machtverhältnissen hin zu Institutionen im Globalen Süden. Doch wenn es um konkrete Strukturen ging, überwogen Zweifel, Skepsis – und Angst.
„Unsere Studie zeigt, wie Ungleichheit in der globalen Gesundheitsforschung durch die überall in Nordamerika verbreiteten ’soft-money‘-Strukturen aufrechterhalten wird. Forschende müssen außenfinanzierte Projekte an Land ziehen, um ihren Arbeitsplatz zu sichern. Das erzeugt Stress, schwächt die Wirkung der Forschung und blockiert die Veränderungen, die viele selbst wünschen“, erklären Krugman und Bayingana.
Veränderung mit Risiko
Die Abhängigkeit vom Forschungsmarkt habe Folgen: Wenn sich Förderprioritäten änderten, müssten langfristige Projekte abrupt beendet werden. Partner im Globalen Süden werden so immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Und selbst wenn Forschende ändern wollten, wie und mit wem sie arbeiten – das System zwinge sie zu einem anderen Verhalten.
„Die Universitäten im Norden brauchen die Overhead-Finanzierung aus Drittmitteln, um selbst überleben zu können. Eine echte Umverteilung würde ihre eigene Existenz gefährden. Deshalb bleibt die symbolische Solidarät oft folgenlos. Wenn Dekolonialisierung mehr sein soll als ein Lippenbekenntnis, müssen die materiellen Realitäten in den Fokus„, so die beiden Forscher.
Viele Befragte gaben an, auf mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten, um überhaupt auf ein volles Gehalt zu kommen. Eine Person sagte: „Wenn du die Gelder bekommst, überlebst du. Wenn nicht, dann nicht.„
Die Axt am eigenen Budget als Strategie
Die Autor*innen schlagen einen radikalen Begriff vor: „ruinous solidarity“ – ruinöse Solidarät. Gemeint ist die Bereitschaft von Forschenden und Institutionen im Norden, bewusst Macht und Ressourcen abzugeben – selbst wenn das die eigene Karriere, Reputation oder Finanzierung gefährdet. Im Kern geht es um eine Umkehr des bestehenden Modells: Statt dass Forschungsgelder über die Institutionen des Nordens verteilt werden, sollten Partner im Globalen Süden direkt gefördert werden. Diese Verschiebung sei nicht nur gerecht, sondern auch effizienter: Sie stärke lokale Expertise, erlaube nachhaltigere Partnerschaften und reduziere Abhängigkeiten. Doch dazu braucht es Mut. Denn in einer Zeit, in der auch in den USA Wissenschaftsetats schrumpfen, erscheint der Ruf nach Umverteilung für viele wie ein Schritt ins eigene Aus.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Studie legt offen: Es mangelt nicht an Einsicht oder Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Aber die aktuelle Logik der Wissenschaftsförderung setzt andere Anreize. Wer die Ungleichheit wirklich überwinden will, muss bereit sein, das System grundlegend zu ändern – inklusive der eigenen Position darin.
„Ohne echte Schritte zur Umstrukturierung der Finanzsysteme an den führenden Institutionen des Nordens wird sich die Dominanz durch Drittmittel weiterhin reproduzieren.„
Der Begriff „ruinous solidarity“ mag unbequem klingen – aber genau das macht ihn so treffend. Denn er benennt klar, was auf dem Spiel steht: den Verzicht auf Privilegien zugunsten globaler Gerechtigkeit. Die großen Gesundheitsfragen der Welt können nicht allein mit mehr Geld gelöst werden können, sondern nur mit anderen Regeln.
Kurzinfo: Globale Gesundheit dekolonialisieren
- Studien-Methode: 30 Interviews mit Fakultätsmitgliedern einer US-Public-Health-Schule
- Zentrale Kritik: Dominanz des Nordens durch Drittmittelfinanzierung
- Folge: Ungleichheit, Stress, geringe Wirksamkeit der Forschung
- Konzept „ruinous solidarity“: bewusste Bereitschaft zur Abgabe von Macht und Ressourcen
- Ziel: direkte Förderung von Institutionen im Globalen Süden
- Herausforderung: Finanzierungssysteme der Universitäten selbst müssten sich ändern
Quelle:
Krugman DW, Bayingana A (2025): Soft money, hard power: Mapping the material contingencies of change in global health academic structures.
in: PLOS Glob Public Health 5(5):e0004622 (2025),
DOI: 10.1371/journal.pgph.0004622
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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