Die Generation Spotify hat überall denselben Zugang zur Musik – trotzdem sind die Vorlieben in der Stadt individueller und diverser als auf dem Land – denn viel hängt eben doch vom kulturellen Umfeld und Live-Angeboten ab.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Wer in der Großstadt lebt, hört anders. Nicht nur lauter – sondern vielfältiger, individueller, neugieriger. Das ist kein subjektiver Eindruck, sondern nun auch wissenschaftlich belegt. Ein internationales Forschungsteam hat untersucht, wie urbanes Leben unsere musikalischen Vorlieben prägt – und ist auf einen überraschend starken Zusammenhang gestoßen.
Zwei Dinge waren für die Studie entscheidend: Die schiere Datenmenge – 250 Millionen Hörprotokolle von 2,5 Millionen Nutzer:innen aus Deutschland, Frankreich und Brasilien – sowie ein interdisziplinärer Forschungsansatz. Beteiligt waren unter anderem das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main, das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sowie die Cornell University in den USA.
Je größer die Stadt, desto breiter der Horizont
Die zentrale Erkenntnis: In urbanen Räumen ist der Musikgeschmack nicht nur individueller, sondern auch deutlich breiter gefächert. Menschen in Großstädten hören seltener dasselbe wie ihre Nachbarn – und durchqueren mit ihren Playlists ein weitaus größeres Spektrum an Genres und Stilen. Das Team spricht vom „persönlichen Hörradius“ – ein Begriff, der anschaulich macht, wie weit sich musikalische Neugier erstrecken kann.
Dieser Hörradius wächst mit der Stadtgröße. Ob Berlin, Paris oder São Paulo: Wer hier lebt, ist häufiger mit neuen Einflüssen konfrontiert – sei es im Club, im Café oder über soziale Netzwerke. Der musikalische Alltag ist durchlässiger, internationaler, fragmentierter. Die Stadt wird zum Verstärker der Vielfalt.
Zwischen Adoleszenz und Auswahl
Interessant ist, wie sich dieser Radius über das Leben hinweg verändert. Besonders in der Adoleszenz steigt die Vielfalt der gehörten Musik sprunghaft an, erreicht ihren Höhepunkt mit Ende 20 – und sinkt danach wieder leicht ab.
„Mit Anfang 20 ziehen Menschen üblicherweise von zu Hause aus, lernen an der Universität oder am Arbeitsplatz neue Kreise kennen und haben sowohl die Zeit als auch die Lust zu experimentieren“, erklärt Harin Lee, Erstautor der Studie.
„Aber auch mit über 30 Jahren bleiben wir offen für neue Musik – wir treffen nur zunehmend eine Auswahl.“
Das bedeutet: Musikalische Offenheit ist keine Frage des Alters, sondern der Lebensumstände – und die sind in Städten oft besonders dynamisch.
Der Faktor Stadt bleibt bestehen
Spannend ist: Selbst wenn Faktoren wie Einkommen, Bildung oder soziale Kontakte statistisch herausgerechnet wurden, blieb ein signifikanter Effekt des Stadtlebens bestehen. Anders gesagt: Die bloße Tatsache, in einer Metropole zu wohnen, reicht offenbar aus, um musikalische Vielfalt zu begünstigen.
Das legt nahe, dass urbane Räume selbst als Katalysatoren wirken – nicht nur durch größere Auswahl an Konzerten oder Streaming-Angeboten, sondern durch die alltägliche Konfrontation mit Vielfalt. Stadtluft macht experimentierfreudig – auch im Ohr.
Kulturelle Infrastruktur als Schlüssel
Diese Erkenntnisse sind nicht nur für Streamingdienste oder Soziolog:innen interessant, sondern auch für die Kulturpolitik. Denn wo musikalische Vielfalt blüht, steckt meist auch eine funktionierende kulturelle Infrastruktur dahinter.
„Es gibt deutliche Unterschiede in der Musikauswahl zwischen ländlicheren Gebieten und Megastädten, was zum Teil auch auf den Mangel an kulturellen Ressourcen zurückzuführen sein könnte“, sagt Lee.
„Daher könnten sich Investitionen in Veranstaltungsorte und Kunstausbildung außerhalb der Ballungszentren auszahlen.“
Wer also mehr musikalische Offenheit will, sollte nicht nur an der Oberfläche kuratieren, sondern Strukturen fördern – von Musikschulen bis Jugendzentren.
Der Soundtrack zur Vielfalt
Die neue Studie ist mehr als eine nüchterne Datenauswertung – sie zeigt, wie tief Musik in den urbanen Alltag verwoben ist. Zwischen Hochhaus und Hinterhof entsteht ein Klangraum, der persönliche Grenzen verschiebt und kulturelle Horizonte erweitert. Die Stadt, das wird hier klar, ist nicht nur ein Ort der Bewegung – sondern auch der musikalischen Entfaltung.
Kurzinfo: Studie zum Urbanen Sound
- Datengrundlage: 250 Millionen Hörprotokolle
- Teilnehmende: 2,5 Millionen Menschen aus Deutschland, Frankreich und Brasilien
- Zentrale Erkenntnis: Größere Städte = individuellerer Musikgeschmack
- Hörradius: Nimmt mit Stadtgröße und jugendlichem Alter zu
- Städtische Effekte: Bleiben selbst bei Herausrechnung von Einkommen und Bildung bestehen
- Kulturpolitische Implikation: Förderung kultureller Infrastruktur auf dem Land könnte Vielfalt stärken
- Projektbeteiligte: Max-Planck-Institute, Deezer Research, Cornell University
Originalpublikation:
H. Lee et al.,
Mechanisms of Cultural Diversity in Urban Populations.
in: Nature Communications, 16, 5192 (2025).
DOI: 10.1038/s41467-025-60538-2
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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