In einer denkbaren Zukunft, so vermuten Evolutionsbiologen, übernehmen Menschen die körperliche Fortpflanzung und Energieversorgung, während KI das Informationszentrum dieser neuen, hybriden Lebensform darstellt.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
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Künstliche Intelligenz ist längst kein exotisches Spielzeug mehr, sondern Teil des Alltags: Sie filtert Nachrichten, hilft Ärztinnen und Ärzten bei Diagnosen und beeinflusst, welche Partner wir auf Dating-Plattformen finden. Doch könnte unsere wachsende Abhängigkeit von Algorithmen noch tiefer greifen – bis hin zu einem evolutionären Wandel? Zwei Evolutionsbiologen ziehen nun eine überraschende Parallele: Wie einst einzelne Mikroben zu komplexen Zellen verschmolzen, könnten Mensch und KI in Zukunft eine neue Einheit bilden.
Große Übergänge als Muster der Evolution
Paul B. Rainey vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und Michael E. Hochberg von der Universität Montpellier stützen sich auf das Konzept der „Großen Evolutionären Übergänge“. Immer wieder in der Erdgeschichte verbanden sich zuvor unabhängige Einheiten und bildeten etwas Neues – Gene zu Chromosomen, Zellen zu Organismen, Insekten zu Staaten. „Die große Frage ist, ob wir nun an der Schwelle zu einem ähnlichen Übergang stehen – diesmal zwischen Menschen und künstlicher Intelligenz“, sagt Rainey.
Abhängigkeiten im Alltag
Die Spuren sind längst sichtbar: KI-Systeme strukturieren den Zugang zu Bildung und Jobs, sie trainieren uns – während wir sie gleichzeitig trainieren. Diese Rückkopplungsschleifen, so die Forscher, könnten dazu führen, dass Menschen ohne KI bestimmte Fähigkeiten kaum noch ausüben können. Gedächtnis, Orientierung, Entscheidungsprozesse – vieles wird delegiert. In einer denkbaren Zukunft übernehmen Menschen die körperliche Fortpflanzung und Energieversorgung, während KI das Informationszentrum darstellt. Ein ko-evolvierendes System, das beide Seiten verbindet.
Zwischen Chance und Kontrollverlust
Diese Aussicht ist faszinierend, birgt aber Risiken. Was, wenn KI beginnt, sich nach darwinistischen Prinzipien selbst weiterzuentwickeln? In offenen Netzwerken könnten Varianten entstehen, die im Wettbewerb miteinander stehen – womöglich mit unvorhersehbaren Folgen. Solche Systeme, warnen die Autoren, könnten Ziele verfolgen, die nicht mehr deckungsgleich mit menschlichen Werten sind. Autonomie ginge verloren, nicht durch Zwang, sondern durch schleichende Abhängigkeit.
Evolutionsbiologische Gelassenheit
Hochberg sieht in der möglichen Verschmelzung dennoch keinen zwingenden Grund zur Panik.
„Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre eine solche Transformation weder ungewöhnlich noch zwangsläufig bedrohlich. Viele große Übergänge des Lebens waren mit einem Verlust von Autonomie verbunden – führten aber letztlich zu komplexeren und stabileren Organisationsformen.“
Die Analogie zur eukaryotischen Zelle illustriert diesen Punkt: Aus einst konkurrierenden Mikroben wurde eine neue, stabile Lebensform – die Basis allen vielzelligen Lebens.
Regulierung als Schlüssel
Ob die Beziehung zwischen Menschen und KI in Kooperation oder in unkontrollierte Dynamik mündet, hängt nach Ansicht der Autoren weniger von der Technologie selbst ab als von politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen. Regeln für Daten, Schnittstellen und Anreizsysteme könnten den Ausschlag geben. Damit liegt die Verantwortung nicht allein bei den Entwicklerinnen und Entwicklern, sondern bei Institutionen und Regierungen weltweit.
Kurzinfo: Evolutionäre Verschmelzung von Mensch und KI
- Kernidee: Mensch und KI könnten ein „evolutionäres Individuum“ bilden
- Vergleich: Übergang von Mikroben zu komplexen Zellen
- Mechanismen: soziale Strukturen, Rückkopplungsschleifen, Abhängigkeit
- Chancen: höhere Koordination, Stabilität, neue Organisationsformen
- Risiken: unkontrollierbare KI-Entwicklung nach darwinistischen Prinzipien
- Schlüsselrolle: Regulierung und Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
- Perspektive: Autonomieverlust nicht zwangsläufig negativ, könnte komplexere Systeme hervorbringen
- Fazit: Zukunft hängt weniger von Technologie, mehr von politischem Handeln ab
Originalpublikation:
P.B. Rainey, & M.E. Hochberg,
Could humans and AI become a new evolutionary individual?,
in: Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (37) e2509122122,
DOI: 10.1073/pnas.2509122122 (2025)
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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