Das KI-Modell crossNN gleicht DNA-Daten unbekannter Tumoren mit über 8000 Referenztumoren ab. Die Visualisierung zeigt die große Menge an Daten, auf denen das Modell basiert.
(Bild: Charité/Philipp Euskirchen)
Der Mann kam wegen Doppelbildern. Die MRT-Aufnahmen zeigten einen Tumor – tief im Gehirn, an einer schwer zugänglichen Stelle. Eine klassischer chirurgischer Eingriff wäre mit erheblichen Risiken verbunden gewesen. Doch statt zu operieren, setzten die Ärztinnen und Ärzte der Charité in Berlin auf eine andere Methode: Sie analysierten das Nervenwasser des Patienten – und identifizierten den Tumor mithilfe eines KI-Modells. Der Krebs war ein Lymphom. Die passende Chemotherapie konnte sofort beginnen.
Digitale Diagnostik auf neuem Niveau
Dieser Fall ist kein Einzelfall mehr, sondern Beispiel für eine medizinische Wende. Ein Forschungsteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin hat gemeinsam mit Partnern ein KI-Modell entwickelt, das Hirntumoren anhand ihres epigenetischen Fingerabdrucks präzise klassifizieren kann. Der Clou: Statt Gewebeproben braucht es in vielen Fällen lediglich eine Flüssigkeitsprobe – und einen leistungsfähigen Algorithmus.
„Vor dem Hintergrund einer zunehmend personalisierten, sich schnell entwickelnden Krebsmedizin ist eine präzise Diagnosestellung an einem zertifizierten Tumorzentrum wegweisend für eine erfolgreiche Behandlung“, sagt Prof. Martin E. Kreis, Vorstand Krankenversorgung der Charité.
Die Methode basiert auf sogenannten epigenetischen Modifikationen – molekularen Schaltern, die beeinflussen, welche Gene in einer Zelle aktiv sind. Tumorzellen weisen dabei jeweils charakteristische Muster auf. Diese lassen sich mit ausreichend Daten und Rechenleistung einer spezifischen Tumorart zuordnen.
Fingerabdrücke der Krankheit
„Hundertausende epigenetische Modifikationen fungieren als An- und Ausschalter einzelner Genabschnitte. Ihre Muster bilden einen unverwechselbaren Fingerabdruck“, erklärt PD Dr. Philipp Euskirchen vom Institut für Neuropathologie der Charité. „In Tumorzellen sind die epigenetischen Informationen auf jeweils charakteristische Weise verändert. Anhand ihrer Profile können wir Tumoren unterscheiden und sie klassifizieren.“
Die Software mit dem Namen crossNN basiert auf einem einfachen neuronalen Netzwerk. Trotz der schlichten Struktur erzielt es beeindruckende Ergebnisse: Mit einer Genauigkeit von 99,1 Prozent kann es Hirntumoren korrekt bestimmen. Für Tumoren anderer Organe liegt die Trefferquote bei 97,8 Prozent – ein Spitzenwert, der bisherige Verfahren übertrifft.
KI erkennt Muster trotz Datenlücken
Eine besondere Stärke von crossNN: Es kann auch dann zuverlässige Diagnosen liefern, wenn nur ein Teil des epigenetischen Profils vorliegt oder die Daten mit unterschiedlichen Methoden erhoben wurden. „Unser Ziel war es daher, ein Modell zu entwickeln, das Tumoren genau klassifiziert, selbst wenn nur Teile des gesamten Tumor-Epigenoms zugrunde liegen oder die Profile mit unterschiedlichen Techniken und variierender Genauigkeit erhoben wurden“, sagt Dr. Sören Lukassen, Bioinformatiker am Berlin Institute of Health.
Diese Robustheit könnte vor allem in klinischen Situationen hilfreich sein, in denen schnelle Entscheidungen gefragt sind. Zudem bietet das System eine hohe Erklärbarkeit – ein wichtiger Aspekt für Zulassungen im medizinischen Bereich. Ärztinnen und Ärzte können nachvollziehen, wie und warum das Modell zu einer bestimmten Diagnose gelangt ist.
Erste Anwendung in der Klinik
Bereits heute wird die Methode an der Charité in Einzelfällen eingesetzt. Davon profitierte unter anderem der Mann, der sich mit dem Sehen von Doppelbildern vorgestellt hatte: „Wir haben das Hirnwasser mittels Nanopore-Sequenzierung, einer neuartigen, sehr schnellen und effizienten Form der Erbgutanalyse, untersucht. Die Klassifikation durch unsere Modelle ergab, dass es sich um ein Lymphom des zentralen Nervensystems handelte“, berichtet Euskirchen. So konnte der Patient ohne Operation behandelt werden.
In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Konsortium für translationale Krebsforschung (DKTK) soll crossNN nun an allen acht DKTK-Standorten in klinischen Studien getestet werden. Auch ein Einsatz während Operationen ist in Planung. Langfristiges Ziel ist die Integration in die Routineversorgung – als schnelle, schonende und kosteneffiziente Alternative zur klassischen Biopsie.
Künstliche Intelligenz gegen den Krebs
„Obwohl die Architektur unseres KI-Modells sehr viel einfacher ist als bisherige Ansätze und dadurch erklärbar bleibt, liefert es präzisere Vorhersagen und damit eine höhere diagnostische Sicherheit“, sagt Lukassen. Eine einfache Idee mit großer Wirkung: Der digitale Blick ins Erbgut könnte künftig vielen Krebspatientinnen und -patienten invasive Eingriffe ersparen – und Leben retten.
Kurzinfo: KI-Modell zur Tumordiagnostik
- Name des Modells: crossNN
- Entwickelt von: Charité Berlin, BIH, DKTK
- Technologie: Neuronales Netzwerk zur Analyse epigenetischer DNA-Muster
- Datengrundlage: DNA-Methylierungsprofile (z. B. aus Nervenwasser)
- Genauigkeit:
– 99,1 Prozent bei Hirntumoren
– 97,8 Prozent bei 170 Tumorarten anderer Organe - Vorteile:
– Nichtinvasive Diagnostik möglich
– Auch bei schwieriger Datenlage einsetzbar
– Entscheidungen nachvollziehbar (erklärbare KI) - Anwendung:
– Erste klinische Einsätze an der Charité
– Geplante Studien an acht DKTK-Standorten
– Potenzial für breite Anwendung in der Krebsmedizin
Originalpublikation:
Yuan D et al.,
„cossNN is an explainable framework for cross-platform DNA methylation-based classification of tumors“,
in: Nature Cancer. 2025 June 06.
doi: 10.1038/s43018-025-00976-5
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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