Überschätzes „Ich würde doch nie …“

Überschätzes „Ich würde doch nie …“

„Ich bin besser als der Durchschnitt“ denken die meisten – leider macht genau das sie besonders anfällig für Manipulationen, wenn sie sozialem Druck ausgesetzt sind.

(Bild: Redaktion/PiPaPu)


Ein einfacher Drehregler. Dreißig Stufen. Am Ende: Stromstöße mit tödlicher Spannung. Die meisten Teilnehmenden des berühmten Milgram-Experiments von 1961 gehorchten – trotz innerer Zweifel. Eine neue Studie zeigt nun: Auch heute würden viele von uns genauso weit gehen. Und das, obwohl wir glauben, es besser zu machen.

Selbstbild gegen Realität

Philip Mazzocco, Psychologe an der Ohio State University, ließ mit seinem Team über 400 Erwachsene einschätzen, wie sie in einer Situation wie der von Milgram reagieren würden. Das Ergebnis: Die Mehrheit glaubt, moralisch gefestigter zu handeln als der Durchschnitt. Auf einer Skala von 1 (sofortiger Abbruch) bis 31 (vollständiger Gehorsam) lag der eigene geschätzte Ausstieg im Schnitt bei Stufe 7 – der von „anderen“ bei Stufe 12.

Sozialer Druck ist viel mächtiger und einflussreicher, als wir ihm zutrauen“, sagt Mazzocco. „Wenn man diesem Druck erliegt, kann man sich plötzlich so verhalten, dass es nicht mehr zu den eigenen Werten und Überzeugungen passt.

Der moralische Trugschluss

Das Phänomen dahinter nennen Forschende den „besser-als-der-Durchschnitt-Effekt“. Menschen neigen dazu, sich selbst in einem besseren Licht zu sehen – ob als Autofahrer, Kollege oder eben als moralisches Wesen. Das ist menschlich, kann aber gefährlich werden. Denn wer sich für besonders resistent gegen Autorität hält, ist oft blind für subtile Manipulation.

Selbst dann, wenn Teilnehmende vorab über das Ergebnis des Original-Experiments informiert wurden – nämlich, dass 65 Prozent bis zur höchsten Stromstufe gingen – änderte das nichts an ihrer Selbsteinschätzung. Nur ihre Bewertung der „anderen“ fiel pessimistischer aus.

Simulation mit Tiefgang

In der Studie sollten die Teilnehmenden nicht selbst Stromstöße verabreichen, sondern sich gedanklich in die Situation hineinversetzen. Das nennt sich „imaginale Replikation“. Und selbst in dieser Vorstellung unterschätzten viele die Macht des sozialen Drucks.

Nur über eine solche Situation zu lesen, reicht nicht aus. Es führt nicht wirklich dazu, dass wir verinnerlichen, wie anfällig wir alle für sozialen Druck sind“, so Mazzocco. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Realität sei vergleichbar mit einem Horrorfilm: Vom Sofa aus wirkt alles harmlos – bis man sich plötzlich selbst verfolgt fühlt.

Die Rolle der Persönlichkeit

Ein weiterer Aspekt: Die Forschenden untersuchten auch, ob bestimmte Charakterzüge die Reaktion beeinflussen. Besonders auffällig: Menschen mit hoher Gewissenhaftigkeit – also solche, die Regeln ernst nehmen und Verantwortung tragen wollen – waren eher geneigt, dem Versuchsleiter zu folgen. Ausgerechnet die Tugendhaften liefen eher Gefahr, sich anzupassen.

Der Grund: Wer sich als gewissenhaft erlebt, möchte oft auch Erwartungen erfüllen. Selbst dann, wenn sie unausgesprochen und moralisch fragwürdig sind. Und das führt zu einem paradoxen Effekt – denn genau diese Menschen halten sich oft für besonders standhaft.

Solche Studien sind gesellschaftlich relevant, weil wir uns gern einreden, gegen Autorität immun zu sein“, erklärt Mazzocco. „Doch genau das macht uns anfällig für Autoritäten, die unsere Gutgläubigkeit ausnutzen wollen.

Strategien statt Selbstüberschätzung

Was also tun? Die Forschenden empfehlen, sich der eigenen Verletzlichkeit bewusst zu werden – und sich Strategien zurechtzulegen, um problematischen Situationen zu entkommen. Das kann heißen: Gruppenzwang frühzeitig zu erkennen, Ausstiege vorzubereiten oder – ganz simpel – eine neugierige Grundhaltung zu kultivieren.

Denn wer fragt, hört auf, automatisch zu folgen. Die Botschaft der Studie ist unbequem, aber wichtig: Moralisches Verhalten ist kein Reflex, sondern eine bewusste Entscheidung. Und wer glaubt, immer das Richtige zu tun, übersieht oft, wie leicht sich das eigene Gewissen beugen lässt.

Es braucht mehr als einen starken Willen – es braucht ein waches Bewusstsein. Nur so lässt sich dem Gruppendruck wirklich widerstehen.


Kurzinfo: Wer widersteht dem Gruppendruck?

Studie:
Imaginale Replikation des Milgram-Experiments mit über 400 Teilnehmenden
Ergebnisse:
Teilnehmende dachten, sie würden das Experiment bei Stufe 7 abbrechen – den „Durchschnittsmenschen“ schätzten sie auf Stufe 12
Besser-als-der-Durchschnitt-Effekt:
Viele halten sich für moralisch gefestigter als andere – ein trügerischer Denkfehler
Empfehlung:
Gruppendruck reflektieren, persönliche Ausstiegsstrategien entwickeln
Historischer Bezug:
Original-Milgram-Studie (1961): 65 Prozent gehorchten bis zur höchsten „Stromstoß“-Stufe


Originalpublikation:

Philip Mazzocco et al.,
„Milgram shock-study imaginal replication: how far do you think you would go?“
in: Current Psychology (29-May-2025)
DOI: 10.1007/s12144-025-07962-1#Abs1//

Über den Autor / die Autorin

H.O. Wireless
H.O. Wireless
Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.

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