Seit Jahrzehnten teilen Psychologie und Neurowissenschaften menschliches Verhalten in zwei Systeme: das schnelle, intuitive – und das langsame, reflektierte. Doch diese Dichotomie greift nach Ansicht der Forschenden zu kurz.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Kurzinfo: Neue Theorie der Handlungssteuerung im Gehirn
- Modell verbindet Neurowissenschaft und KI-Forschung
- Studie von TU Chemnitz, Universität Magdeburg und Universidad de Santiago de Chile
- Untersucht neuronale Schaltkreise zwischen Kortex, Thalamus und Basalganglien
- Verhalten entsteht durch Zusammenspiel statt durch getrennte Systeme
- Automatische und zielgerichtete Handlungen bilden ein Kontinuum
- Parallelen zu Aufmerksamkeitsmechanismen in Transformer-Netzwerken
- Potenzial für energieeffizientere KI-Systeme
Ob Kaffeekochen, Autofahren oder das Tippen einer E-Mail – vieles im Alltag geschieht wie von selbst. Doch was im Gehirn dabei genau passiert, war bislang Gegenstand einer simplen, aber einflussreichen Unterscheidung: zwischen automatischem Handeln und bewusster Steuerung. Nun rütteln Forschende aus Chemnitz, Santiago de Chile und Magdeburg an diesem Grundmodell – und schlagen ein neues Verständnis vor, das unser Verhalten als dynamisches Zusammenspiel vieler Hirnkreise beschreibt.
Vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch
Seit Jahrzehnten teilen Psychologie und Neurowissenschaften menschliches Verhalten in zwei Systeme: das schnelle, intuitive – und das langsame, reflektierte. Doch diese Dichotomie greift nach Ansicht der Forschenden zu kurz. Das Team um Prof. Dr. Fred Hamker von der Technischen Universität Chemnitz, Dr. Javier Baladron (Universidad de Santiago de Chile) und Dr. Lieneke Janssen (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) zeigt, dass Gewohnheit und Zielorientierung keine Gegensätze sind, sondern fließend ineinander übergehen.
„Diese Schleifen ermöglichen sowohl zielgerichtetes als auch automatisches Verhalten. Entscheidend ist, wie stark sie miteinander interagieren: Wenn Abkürzungen innerhalb dieser Schaltkreise entstehen, wird Verhalten eher zur Gewohnheit. Wenn dagegen alle Schleifen vollständig durchlaufen werden, bleibt das Handeln stärker auf ein Ziel ausgerichtet,“ erklärt Hamker.
Die Basalganglien als Taktgeber des Alltags
Im Zentrum der neuen Theorie stehen die sogenannten Basalganglien – ein Netzwerk tief im Gehirn, das eng mit Thalamus und Kortex verbunden ist. Diese Strukturen wirken wie fein abgestimmte Schaltkreise, die Bewegungen, Entscheidungen und Motivation koordinieren. Sie lernen aus Erfahrung, welche Handlungen sich lohnen – und wann sie automatisiert werden können.
So lässt sich erklären, warum wir beim Zähneputzen nicht jedes Mal neu nachdenken müssen, beim Erlernen eines Instruments oder einer Sprache aber bewusst üben. „Das Gehirn optimiert ständig zwischen Aufwand und Nutzen – eine Art neuronaler Energiesparmodus,“ sagt Baladron.
Neue Perspektiven für künstliche Intelligenz
Bemerkenswert ist, dass die Forschenden Parallelen zwischen menschlicher Handlungssteuerung und moderner KI-Technologie ziehen. Besonders Transformer-Netzwerke – die Basis heutiger Sprachmodelle – zeigen ähnliche Aufmerksamkeitsmuster wie das menschliche Gehirn. „Indem KI-Modelle künftig gewohnheitsähnliche Abkürzungen nutzen, könnten sie effizienter und energiesparender werden,“ erläutert Hamker.
Damit eröffnet die Studie nicht nur neue Einsichten für die Neurowissenschaft, sondern liefert auch Impulse für die nächste Generation „neuroinspirierter“ KI-Systeme, die lernfähiger und zugleich ressourcenschonender arbeiten könnten.
Wenn Gewohnheit auf Ziel trifft
Die Idee eines Kontinuums zwischen Reflex und Reflexion stellt eine Brücke zwischen Alltagserfahrung und neuronaler Forschung dar. Gewohnheiten sind demnach nicht das Gegenteil von Denken, sondern eine optimierte Form davon. Janssen fasst zusammen: „Das Gehirn ist kein Schalter zwischen zwei Modi, sondern ein Netzwerk, das flexibel auf Erfahrung reagiert.“
Diese Sichtweise könnte erklären, warum selbst Routinen anpassungsfähig bleiben – etwa wenn man in einer neuen Küche plötzlich den falschen Schrank öffnet. Das Gehirn testet, lernt und korrigiert, ohne jedes Mal neu zu planen.
Vom Gehirn zur Maschine – und zurück
Die Veröffentlichung in Trends in Neuroscience betont den interdisziplinären Charakter der Arbeit: Neurobiologie trifft Künstliche Intelligenz. Für Hamker ist das kein Zufall. „Das Verständnis des Gehirns hilft uns, bessere Maschinen zu bauen – und diese wiederum helfen uns, das Gehirn besser zu verstehen,“ sagt er.
Originalpublikation:
Fred H. Hamker et al.:
Interacting corticobasal ganglia-thalamocortical loops shape behavioral control through cognitive maps and shortcuts,
in: Trends in Neurosciences, 9 October 2025,
DOI: doi.org/10.1016/j.tins.2025.09.006
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
Letzte Beiträge
Hirnforschung29. Oktober 2025Zielgerichtet oder gewohnheitsmäßig? Neue Theorie erklärt, wie das Hirn unser Verhalten lenkt
Künstliche Intelligenz28. Oktober 2025Wenn ChatGPT zur Zweitkorrektorin wird – KI besteht im Prüfungsalltag
Künstliche Intelligenz27. Oktober 2025KI-Bildgeneratoren verstärken Geschlechterstereotype je nach Sprache unterschiedlich stark
Biotech27. Oktober 2025Reißfeste künstliche Muskeln: So bekommen softe Robots Superkräfte


Schreibe einen Kommentar