Das Wunschziel USA motiviert viele Menschen im globalen Süden, mehr in ihre Bildung zu investieren – was auch ihren eigenen Ländern zugutekommt, alleine schon, weil nicht alle Studierenden tatsächlich emigrieren.
(Bild: Redaktion/PiPapu)
Die Sorge ist alt, das Narrativ vertraut: Wenn Ingenieurinnen, Pflegekräfte oder IT-Talente ihre Herkunftsländer verlassen, um in wohlhabenderen Staaten zu arbeiten, dann verlieren die Ursprungsstaaten ihr wertvollstes Kapital – ihre Köpfe. Doch ein neues Forschungspapier, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Science, rückt dieses Bild zurecht. Unter dem Titel „Brain Drain or Brain Gain?“ zeigt ein internationales Forscherteam, dass genau das Gegenteil der Fall sein kann: Hochqualifizierte Migration stärkt nicht nur die Zielländer – sondern auch die Herkunftsländer.
Migration als Investition in Bildung
Die Studie analysiert unter anderem, wie sich Bildungssysteme in Ländern des Globalen Südens verändern, wenn dort die Aussicht auf gut bezahlte Jobs im Ausland wächst. Das Ergebnis: Migration schafft Anreize. Denn wer die Chance auf ein US-Visum sieht, ist eher bereit, in Ausbildung und berufliche Qualifikation zu investieren. „Der weltweite Wohlstand steigt, wenn Länder Zugang zum US-Arbeitsmarkt haben“, erklärt Studien-Mitautor Gaurav Khanna von der Universität Kalifornien. „Und auch die USA profitieren, wenn sie weiterhin die besten Talente aus aller Welt anziehen – ob Technikinnovatoren oder ausgebildete Pflegekräfte. Wenn wir die Türen schließen, verlieren wir diesen globalen Gewinn.“
Beispiel Pflegeberufe: Als die USA Anfang der 2000er mehr Visa für philippinische Pflegekräfte vergaben, stieg die Zahl der Neuinskriptionen an Pflegeschulen deutlich – neun neue Pflegekräfte im Land für jede, die auswanderte. Migration führte so zu mehr medizinischem Personal, nicht zu weniger. Dieser sogenannte „Bildungssog“ zeigt sich laut Studie auch in anderen Branchen und Ländern.
Netzwerke statt Abbruch
Doch nicht nur Bildung wird gestärkt. Auch wirtschaftliche Netzwerke entstehen oder vertiefen sich, wenn gut Ausgebildete ins Ausland gehen – und später zurückkehren oder in Kontakt bleiben. „Viel Handel funktioniert über menschliche Netzwerke“, so Khanna. „Wer in den USA gearbeitet hat und zurückkehrt, kennt die Menschen, die Standards, die Märkte – und kann helfen, Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Das schafft nachhaltigen Wert.“ Die Studie verweist auf Beispiele aus Indien: Dort sorgte die Zunahme von H-1B-Visa in den USA nicht nur für bessere Löhne unter ausgewanderten IT-Fachkräften (+10 Prozent), sondern auch für eine Zunahme der Beschäftigung in Indiens IT-Sektor um 5,8 Prozent. Hinzu kommt, dass viele Migrantinnen und Migranten selbst nach Jahren im Ausland eng mit ihrer alten Heimat verbunden bleiben – durch familiäre Bindungen, Investitionen oder digitale Kollaboration. Das schafft langfristige Vorteile für beide Seiten.
Rücküberweisung, Rückkehr, Rückwirkung
Die ökonomischen Effekte reichen noch weiter. Viele Migrantinnen und Migranten schicken Geld zurück – Rücküberweisungen, die weltweit jährlich Milliarden ausmachen. Diese Transfers helfen oft, Kinder auszubilden, Familien zu versorgen oder Kleinunternehmen zu gründen. Andere kehren nach Jahren in den USA zurück und bringen Know-how, Kapital und neue Kontakte mit. Damit werden sie zu Brückenbauern zwischen Märkten und Forschungswelten.
„Ein Gehalt in den USA zu verdienen, ist extrem attraktiv“, sagt Khanna. „Das motiviert viele dazu, sich Fähigkeiten anzueignen – selbst wenn sie nie ausreisen. Einige kehren später zurück und arbeiten in ihrer lokalen Wirtschaft; andere schicken Geld, das Kindern Bildung ermöglicht oder Unternehmen aufbaut. All das trägt zur Entwicklung bei.“
Für die Herkunftsländer bedeutet das: Migration ist nicht gleichbedeutend mit Verlust. Sie ist Teil eines Kreislaufs, der Ausbildung, Innovation und wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt – auch ohne, dass jede und jeder tatsächlich migriert.
Gefahr durch restriktive Politik
Allerdings warnen die Forschenden: Die politischen Signale in den USA gehen derzeit in eine andere Richtung. Strengere Regeln bei Arbeitsvisa, eingeschränkte Möglichkeiten für internationale Studierende und erschwerte Rückkehrmigration drohen, diese positiven Effekte zunichte zu machen.
Denn hochqualifizierte Migration ist kein Nullsummenspiel, bei dem das Herkunftsland verliert, was das Zielland gewinnt. Vielmehr sei es ein Kreislauf aus Bildungsanreizen, globalem Wissenstransfer und geteiltem Wohlstand, so die Studie. Eine politische Abschottung durch restriktive Visapolitik könnte diesen Kreislauf durchbrechen – mit negativen Folgen für alle Beteiligten.
„Die aktuelle Entwicklung in der US-Politik droht, ein über Jahrzehnte gewachsenes System der globalen Zusammenarbeit zu untergraben“, sagt Mitautorin Catia Batista vom Nova SBE Economics Department. „Statt auf Abschottung zu setzen, sollten Staaten Anreize für Austausch und Rückkehr schaffen – davon profitieren alle.“
Fazit: Migration als globale Chance
Der neue Blick auf Migration rückt zentrale Fragen in ein neues Licht: Was passiert, wenn Talente gehen – und was, wenn sie zurückkommen oder vernetzt bleiben? Die Studie zeigt: Es braucht keine Angst vor Brain Drain. Vielmehr sollten internationale Migrationssysteme so gestaltet werden, dass sie Talente bewegen, ohne Verbindungen zu kappen. Offenheit ist dabei keine Schwäche – sondern ein globaler Gewinn.
Kurzinfo: Studie „Brain Drain oder Brain Gain?“
- Kernaussage: Hochqualifizierte Migration fördert globale Entwicklung
- Beispiel Philippinen: Neun neue Pflegekräfte pro ausgewanderter Fachkraft
- Beispiel Indien: Mehr H-1B-Visa steigerten IT-Beschäftigung um 5,8 Prozent
- Netzwerke: Rückkehrer fördern internationalen Handel & Forschung
- Rücküberweisungen: Finanzielle Transfers stärken Bildung & Unternehmertum
- Risiko: Neue US-Visabeschränkungen gefährden diesen Kreislauf
- Appell: Migration nicht als Verlust, sondern als geteilten Fortschritt begreifen
- Zukunftsperspektive: Politische Offenheit entscheidet über globalen Wohlstand
Originalpublikation:
Catia Batista et al.,
„Brain Drain or Brain Gain? Effects of High-Skilled International Emigration on Origin Countries“
in: SCIENCE, 22 May 2025, Vol 388, Issue 6749
DOI: 10.1126/science.adr8861
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
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