Mehr Wirtschaftswachstum durch unbegrenztes Arbeiten? Zehn-Stunden-Tage sind bereits jetzt möglich, sinnvoll sind sie jedoch nicht – die Produktivität sinkt, und auch die Gesundheit der Arbeitenden leidet.
(Bild: Redaktion/PiPapu)
Ein Arbeitstag mit Zwölf-Stunden-Schichten, gesetzlich erlaubt und planbar? Was nach einem Rückfall in vordigitale Zeiten klingt, steht im Zentrum aktueller arbeitsmarktpolitischer Pläne der Bundesregierung. Unter Federführung von Bundeskanzler Friedrich Merz diskutiert Berlin über eine Umstellung von der täglichen zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit. Eine neue Studie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) zeigt nun: Diese Pläne wären nicht nur gesundheitlich riskant, sondern auch ökonomisch kontraproduktiv.
Bereits heute viel Flexibilität im Gesetz
Das bestehende Arbeitszeitgesetz erlaubt schon jetzt tägliche Arbeitszeiten von bis zu zehn Stunden, sofern innerhalb von sechs Monaten ein Ausgleich erfolgt. Auch branchenspezifische Ausnahmen über Tarifverträge oder behördliche Genehmigungen sind möglich. Warum also darüber hinausgehen?
Die Antwort liegt in einem wirtschaftspolitischen Denkfehler, so die HSI-Studie. Mehr Arbeitszeit gleich mehr Produktivität – das gelte nur scheinbar. Tatsächlich könnten Überstunden über das bisherige Maß hinaus sogar das Gegenteil bewirken: steigende Krankheitskosten, mehr Fehlzeiten, geringere Erwerbsbeteiligung.
„Eine Arbeitszeitderegulierung, die Erkenntnisse von Arbeitsmedizin und Arbeitsforschung ausblendet und an der sozialen Realität vorbeigeht, dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken„, sagt HSI-Expertin Dr. Amélie Sutterer-Kipping.
Gesundheitliche Risiken steigen deutlich
Was nach ökonomischer Vernunft klingt, verkennt laut Studie die gesundheitlichen Realitäten. Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden pro Tag sind wissenschaftlich eindeutig mit höheren Risiken für Burnout, Erschöpfung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes verbunden. Laut DAK betrug die durchschnittliche Krankheitsdauer bei psychischen Erkrankungen 2023 bereits 33 Tage.
Auch das Unfallrisiko steigt exponentiell: Nach der zwölften Arbeitsstunde ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls doppelt so hoch wie nach acht Stunden. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmende, sondern auch Dritte, etwa im Straßenverkehr oder im medizinischen Bereich.
„Neben den fatalen Folgen für Arbeitnehmende stellt dies langfristig auch das Gesundheitssystem und Arbeitgebende vor enorme Herausforderungen„, betonen Sutterer-Kipping und Co-Autor Dr. Laurens Brandt.
Vereinbarkeit droht zu kippen
Besonders fatal wäre eine solche Reform für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Schon jetzt stemmen Frauen einen Großteil der unbezahlten Sorgearbeit, was ihre Erwerbschancen schmälert. Längere, unvorhersehbare Arbeitszeiten würden diesen Effekt weiter verstärken. Die Wissenschaftler sprechen von einem Risiko für die „Teilzeitfalle“ und zunehmender Altersarmut.
„Dort heißt es zwar, dass sich die Beschäftigten und Unternehmen mehr Flexibilität wünschen, der Koalitionsvertrag sieht aber keine Einflussnahme der Arbeitnehmenden auf die Verteilung der Arbeitszeit vor.„
Statt echter Zeitsouveränität dominiert weiterhin das Direktionsrecht der Arbeitgebenden – sie entscheiden über Beginn und Ende des Arbeitstags.
Mehr Frauen, mehr Arbeit – aber anders
Dabei zeigen die Zahlen: Das Arbeitszeitvolumen ist auf einem historischen Hoch. 2023 arbeiteten Erwerbstätige in Deutschland insgesamt 61,44 Milliarden Stunden. Seit 1991 ist insbesondere die Erwerbsquote von Frauen stark gestiegen – ein zentraler Treiber dieser Entwicklung.
„Die Entwicklung der Arbeitszeit zeigt, dass wir uns zunehmend weg vom traditionellen Alleinverdienermodell zu einem Zweiverdienerhaushalt hinbewegen„, so Sutterer-Kipping und Brandt. Doch das heißt auch: Arbeitszeiten müssen planbar und familienkompatibel bleiben.
Fazit: Besser keine Rolle rückwärts
Ein Zwölf-Stunden-Tag ist kein Fortschritt, sondern ein Schritt zurück. Weder volkswirtschaftlich noch gesellschaftlich ist die Idee tragfähig. Die Regierung wäre gut beraten, bestehende Gesetze wie die Brückenteilzeit zu stärken und in flächendeckende Betreuungsinfrastruktur zu investieren. Der Arbeit der Zukunft sollte die Gesundheit der Menschen nicht geopfert werden.
Kurzinfo: Wöchentliche Höchstarbeitszeit
- Pläne der Bundesregierung zielen auf eine wöchentliche statt tägliche Höchstarbeitszeit.
- Das würde Arbeitstage über 12 Stunden ermöglichen.
- Gesundheitsgefahren steigen laut Studienlage signifikant.
- Unfallrisiko nach 12 Stunden doppelt so hoch wie nach 8.
- Erwerbstätigkeit von Frauen würde weiter erschwert.
- Teilzeitquote bei Frauen schon jetzt fast 50 Prozent.
- Mehr Erwerbsbeteiligung nicht durch mehr Stunden, sondern durch bessere Vereinbarkeit.
- HSI fordert: keine Ausweitung, sondern Stärkung der Zeitsouveränität und Infrastruktur.
Quellenhinweis:
Amélie Sutterer-Kipping, Laurens Brandt: Wöchentliche Höchstarbeitszeit: Gefahr für Vereinbarkeit und Gesundheit, HBS Kommentar Nr. 5, Juni 2025. Downloadlink
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
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