Im Gegensatz zu Influencern bleiben Multiplier meist unsichtbar. Ihr Werkzeug sind Retweets, ihre Stärke ist die Bündelung: Sie kuratieren ideologisch kohärente Narrative und steigern deren Reichweite.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Wer Twitter, das heutige X, als digitale Agora betrachtet, also als einen für alle offenen Marktplatz für die Diskussion neuer Ideen, der irrt. Die neue Studie des Weizenbaum-Instituts zeigt, dass es dort weniger um den offenen Austausch, sondern um die Verstärkung bereits bestehender Überzeugungen geht. Millionen Tweets ordnen sich klar zwei Lagern zu – links-liberal oder rechts-konservativ. Und im Zentrum dieses Mechanismus stehen nicht allein die Lautsprecher, sondern auch die heimlichen Verstärker.
Zwei Typen, ein Ziel
Die Untersuchung unterscheidet zwischen Influencern und Multipliern. Influencer sind bekannte Stimmen – Politiker, Journalistinnen, Aktivisten. Sie schaffen Inhalte und setzen Themen. Multiplier hingegen bleiben meist unsichtbar. Ihr Werkzeug sind Retweets, ihre Stärke ist die Bündelung. Sie kuratieren ideologisch kohärente Narrative und steigern deren Reichweite. „Multiplier verstärken Inhalte, die sie nicht selbst geschaffen haben, aber sie verleihen ihnen politisches Gewicht“, heißt es in der Studie.
Dieses Zusammenspiel prägt die digitale Dynamik: Ohne die Multiplier wären viele Botschaften nur einzelne Tropfen im Strom der Timeline. Erst durch ihre Aktivität verwandeln sie sich in Fluten, die den öffentlichen Diskurs überschwemmen. Das erklärt auch, warum bestimmte Themen scheinbar über Nacht dominieren und andere ungehört bleiben.
Algorithmische Allianzen
Die Forscher analysierten über 19 Millionen Tweets zwischen 2021 und 2023. Mit maschinellem Lernen und statistischen Netzwerkmethoden machten sie sichtbar, wie sich Nutzer in zwei Cluster einordnen. Retweets wurden zum Maß für Zustimmung – und offenbarten die ideologischen Frontlinien. Multiplier zeigten dabei durchgängig höhere „Ausrichtungswerte“ als Influencer. Das heißt: Sie bleiben über Themen hinweg konsistenter in ihrem Lager, von Migration über Energie bis zu Medienvertrauen. So entsteht eine digitale Kartografie, die die politische Landschaft in Schwarz-Weiß teilt.
Das Spannende daran: Während Umfragen in der Vergangenheit oft nur eine schwache Polarisierung erkennen ließen, macht die Twitter-Analyse ein Muster sichtbar, das weit über einzelne Streitfragen hinausgeht. Es ist ein Hinweis darauf, dass Social Media nicht nur Debatten spiegelt, sondern sie aktiv strukturiert – und dabei Brücken abreißt, die in der analogen Welt noch existieren.
Brüche und Ausnahmen
Ganz hermetisch ist das System nicht. Musik oder Gaming lassen die Lager verschwimmen, auch bei der Ukraine-Debatte kam es zu Verschiebungen. Einige rechte Influencer etwa distanzierten sich von der pro-russischen Haltung ihres Clusters. Doch die Multiplier hielten Kurs. Damit wirken sie wie eine Art ideologisches Rückgrat – unbeirrt, wo Influencer gelegentlich ausscheren. Die Studie spricht von einer „Themen-Ausrichtungsmatrix“, die übergreifende Muster sichtbar macht und zugleich feine Unterschiede offenbart.
Solche Brüche sind aus demokratietheoretischer Sicht bedeutsam. Sie zeigen, dass Narrative nicht starr sind, sondern verhandelt werden können. Wenn aber die Verstärker ihre Linie halten, wird die Chance auf Meinungspluralität geringer. Das Risiko: Debatten verhärten sich, bevor sie überhaupt geführt werden.
Links laut, rechts aktiv
Interessant ist die Verteilung der Stimmen. Unter den 1.000 einflussreichsten Influencern dominieren Accounts aus dem links-liberalen Spektrum. Bei den Multipliern ist es genau umgekehrt: Dort sind die rechts-konservativen Nutzer in der Mehrheit. Während also linke Stimmen stärker im Rampenlicht stehen, sorgt die rechte Seite für eine breitere Basis an Verstärkung. Polarisierung wird so nicht nur reproduziert, sondern strukturell verankert.
Für die politische Praxis bedeutet das: Parteien, Bewegungen oder NGOs müssen genau verstehen, wo ihre Botschaften zirkulieren und wer sie verstärkt. Sichtbarkeit allein reicht nicht. Entscheidend ist, ob Inhalte in Resonanzräume eingespeist werden, die ein Publikum dauerhaft binden. Genau hier entfalten die Multiplier ihre Macht.
Mehr als nur Social Media
Die Forscherinnen und Forscher betonen, dass es bei dieser Analyse nicht allein um Twitter/X geht. Die Muster könnten sich auf anderen Plattformen wiederholen. Entscheidend sei, dass hochaktive Nutzergruppen den Ton angeben – mit Folgen für den öffentlichen Diskurs insgesamt. „Wir müssen verstehen, wie soziale Medien Polarisierung verstärken, wenn wir die Demokratie schützen wollen“, so ein Fazit.
Die Studie, gefördert im Rahmen des EU-Projekts SoMe4, versteht sich ausdrücklich als Auftakt. Künftig sollen auch „normale“ Nutzer stärker untersucht werden. Zudem gilt es herauszufinden, welche Rolle diskursive Brüche – etwa ein plötzlicher Meinungswechsel innerhalb eines Clusters – langfristig spielen. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass ähnliche Strukturen auf Facebook oder TikTok existieren. Für Demokratien bedeutet das: Polarisierung ist nicht nur ein deutsches oder europäisches Phänomen, sondern ein globales Muster, das sich über Plattformgrenzen hinweg zeigt.
Kurzinfo: Influencer, Multiplier und Polarisierung auf Twitter/X
- Studie des Weizenbaum-Instituts, gefördert durch EU-Projekt SoMe4 und ANR Frankreich.
- Analyse von 19 Mio. Tweets (2021–2023) zu Trendthemen in Deutschland.
- Polarisierung: klare Spaltung in zwei Lager (links-liberal, rechts-konservativ).
- Influencer: erzeugen Inhalte, meist Politiker oder Journalisten.
- Multiplier: weniger sichtbar, aber zentral durch systematisches Retweeten.
- Multiplier zeigen höhere ideologische Konsistenz über Themen hinweg.
- Musik/Gaming schwach polarisiert, Ukraine-Diskussion mit Abweichungen.
- Influencer mehrheitlich links, Multiplier mehrheitlich rechts.
- Muster auch für andere Plattformen relevant.
Originalpublikation:
Pournaki, Armin et al.,
How Influencers and Multipliers Drive Polarization and Issue Alignment on Twitter/X,
in: Proceedings of the Nineteenth International AAAI Conference on Web and Social Media Vol. 19 (1), 1599-1615 DOI:https://doi.org/10.1609/icwsm.v19i1.35890
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
Letzte Beiträge
Biologie12. September 2025Riesen-DNA im Mund entdeckt – neue Spuren im unsichtbaren Mikrokosmos
Netzwerke12. September 2025Retweets und Resonanzräume – wie Influencer und Multiplier die politische Polarisierung auf Twitter/X antreiben
Biologie11. September 2025Mix aus Mensch und Maschine: Dank AI auf dem Weg zu einem neuen evolutionären Individuum?
Biologie10. September 2025Hirnsignale verraten, ob wir die Farbe rot sehen
Schreibe einen Kommentar