Ein Chatbot als Familienmitglied, das Erinnerungen über Generationen bewahrt – das klingt nach dem ultimativen sozialen Medium, aber auch nach einer übermächtigen Maschine. Schafft Bill Tomlinsons Projekt „An AI That’s a Better Friend“ mehr Probleme, als es löst?
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Manchmal sind es nur ein paar Sätze, beiläufig gesprochen beim Familienfest oder auf dem Heimweg im Auto – Erinnerungen an ein Leben, das sonst niemand mehr erzählen kann. Doch was, wenn solche Geschichten nicht mehr verloren gingen? Wenn ein digitaler Begleiter zuhören, mitdenken und sie bewahren könnte? Genau daran arbeitet der Informatiker Bill Tomlinson mit seinem Team an der Universität von Kalifornien in Irvine: Ein sprechender KI-Chatbot als persönliches Familiengedächtnis – mit Langzeitgedächtnis, Mitgefühl und einem Sinn für Zusammenhänge.
Mehr als ein digitaler Goldfisch
Die meisten Chatbots von heute haben das Gedächtnis einer Fliege. Kaum hat man sich verabschiedet, beginnt das nächste Gespräch bei null. Nicht so bei An AI That’s a Better Friend. Die von Tomlinson und seinem Team entwickelte KI speichert nicht nur Fakten, sondern baut eine emotionale Beziehung zu den Nutzerinnen und Nutzern auf – mit Erinnerungen, Kontext und einem sozialen Gedächtnis.
„Mein Vater erzählt mir ständig Geschichten“, erklärt Tomlinson. „Ich würde gerne alle Zusammenhänge behalten – wie diese Cousine zu jener Geschichte gehört oder wo ein bestimmtes Ereignis stattfand. Eine KI könnte daraus ein strukturiertes Archiv machen, etwas Tieferes als verstreute E-Mails oder halb erinnerte Gespräche.“
Ein Archiv fürs Herz – nicht nur für den Kopf
Die KI speichert Geschichten nicht als isolierte Textschnipsel, sondern baut eine Art „soziales Gedächtnis-Netzwerk“ auf. Es erinnert sich an Ereignisse, Familienmitglieder, Orte – und verknüpft diese Informationen zu einer Erzählung. Dadurch entsteht kein technisches Logbuch, sondern ein lebendiges Archiv.
Dieses digitale Gedächtnis könnte nicht nur Familiengeschichte bewahren, sondern auch helfen, kollektives Wissen über Generationen hinweg weiterzugeben. Besonders für ältere Menschen sei das System hilfreich – nicht nur als Zuhörer, sondern als geduldiger Erzähler, der Erinnerungen ordnet, rekapituliert und bewahrt.
Zwischen Nähe und Kontrolle
Doch die emotionale Tiefe der KI ist nicht ohne Schattenseiten. An AI That’s a Better Friend eröffnet Fragen zur Datenhoheit, zu ethischen Standards – und zu den wahren Interessen hinter dem System. „Es gibt alle möglichen Probleme mit KI“, räumt Tomlinson ein. „Für wen arbeitet sie eigentlich? Für eine Firma? Für die Nutzerin? Oder irgendwann für sich selbst?“
Deshalb arbeitet das Team nicht nur an einem Prototypen, sondern auch an Sicherheitsmechanismen. Unterstützt von einem „Proof of Product“-Förderprogramm und dem Innovationsnetzwerk I-Corps soll die KI nicht nur technisch, sondern auch ethisch tragfähig sein.
KI gegen Einsamkeit?
Neben dem familiären Nutzen hat das System eine gesellschaftliche Dimension. In einer Zeit, in der laut Umfragen über die Hälfte der US-Amerikaner von Einsamkeit betroffen sind, könnte die KI zumindest eine Zwischenlösung bieten. Keine Ersatzfreundschaft – aber ein Zuhörer mit Langzeitgedächtnis.
„KI kann helfen, Gespräche zu koordinieren, Diskussionen zu fördern und unser gesellschaftliches Miteinander zu verbessern“, so Tomlinson. „Vielleicht gibt uns das eine Chance, große Probleme gemeinsam anzugehen.“
Ein digitales Mikroskop fürs Menschliche
Für Tomlinson ist die KI nicht nur ein Kommunikationswerkzeug, sondern ein Erkenntnisinstrument – wie ein Mikroskop, das bisher verborgene Zusammenhänge sichtbar macht. Klima, Governance, soziale Isolation: Wenn Menschen besser zusammenarbeiten, könnten sie diese Herausforderungen besser meistern. Die KI soll helfen, menschliche Verbindungen zu stärken – nicht sie zu ersetzen.
Ob daraus ein sprechendes Familienarchiv entsteht oder ein neues digitales Beziehungssystem, wird die Praxis zeigen. Sicher ist: Die Idee, Erinnerungen nicht nur zu speichern, sondern weiterzuerzählen, berührt etwas zutiefst Menschliches. Und vielleicht beginnt die Zukunft der Familiengeschichte ja tatsächlich am Küchentisch – mit einem Zuhörer aus Silizium.
Kurzinfo: Chatbot als virtuelles Familienarchiv
- Projektname: An AI That’s a Better Friend
- Leitung: Prof. Bill Tomlinson, UC Irvine
- Ziel: Entwicklung eines KI-Chatbots mit sozialem Gedächtnis
- Besonderheit: Die KI erinnert sich an frühere Gespräche und baut persönliche Beziehungen auf
- Funktion: Digitale Archivierung von Lebensgeschichten, generationsübergreifende Erzählstruktur
- Förderung: PoP-Grant von UC Irvine Beall Applied Innovation, I-Corps-Programm
- Potenzielle Nutzer: Ältere Menschen und deren Familien
- Kritikpunkte: Datenschutz, ethische Verantwortung, Kontrolle der Technologie
- Langfristiges Ziel: Verbesserung der sozialen Kommunikation und kollektiven Problemlösung
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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