Neben der Gesundheit leidet vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. 75 Prozent der Befragten rechnen mit einer Verschlechterung ihrer Möglichkeiten, familiäre oder private Verpflichtungen zu erfüllen.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Ein Arbeitstag, der nie enden will: Was in Ausnahmesituationen vorkommt, könnte bald zum Normalfall werden. Die Bundesregierung plant, die tägliche Höchstarbeitszeit abzuschaffen und stattdessen eine Wochenregelung einzuführen. Das hieße: auch zwölf Stunden am Stück arbeiten – solange der Schnitt später wieder stimmt. Doch eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Für die große Mehrheit der Beschäftigten klingt das nach einer gefährlichen Verschlechterung.
Gesundheit auf der Kippe
Drei Viertel der Befragten befürchten, dass sehr lange Arbeitstage ihre Erholung und Gesundheit beeinträchtigen. Die Sorge ist nicht unbegründet: Arbeitsmedizinische Forschung zeigt, dass nach der achten Stunde das Unfallrisiko sprunghaft steigt. Burnout, Erschöpfung und Herz-Kreislauf-Probleme sind langfristige Begleiterscheinungen überlanger Schichten. „Die vorliegenden Ergebnisse zeigen: Eine Abschaffung der gesetzlichen täglichen Arbeitszeitgrenze ist weder erforderlich noch sinnvoll“, schreiben die WSI-Forscherinnen Yvonne Lott und Eileen Peters.
Die Zahlen sprechen für sich: 72,5 Prozent der Befragten erwarten, dass auch schon einzelne Tage mit mehr als zehn Stunden ihre Fähigkeit verschlechtern würden, nach Feierabend abzuschalten. Nur sechs Prozent glauben an eine Verbesserung.
Familienleben unter Druck
Neben der Gesundheit leidet vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. 75 Prozent der Befragten rechnen mit einer Verschlechterung ihrer Möglichkeiten, familiäre oder private Verpflichtungen zu erfüllen. 73,5 Prozent fürchten negative Auswirkungen auf gemeinsame Aktivitäten. Die Folgen betreffen nicht nur Freizeitpläne, sondern die Organisation des gesamten Alltags – von der Kinderbetreuung bis zur Pflege Angehöriger.
Besonders Frauen äußern Bedenken. Da sie bereits jetzt den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit leisten, fürchten viele eine weitere Verschärfung der Ungleichheit. „Das ist nicht nur ein individuelles Problem der direkt Betroffenen, sondern es macht es insbesondere Müttern noch schwerer, ihre Arbeitszeit auszuweiten“ , sagt Bettina Kohlrausch, Direktorin des WSI.
Alte Rollenbilder verstärkt
Die Studie zeigt, dass Männer deutlich häufiger regelmäßig über zehn Stunden arbeiten. In knapp der Hälfte dieser Fälle springt am Abend die Partnerin ein, übernimmt Hausarbeit oder Kinderbetreuung. Längere Arbeitstage könnten diese Schieflage zementieren. Kohlrausch warnt: „Damit könnte die Deregulierung der Höchstarbeitszeit ausgerechnet den Zuwachs bei der Erwerbstätigkeit von Frauen bremsen, der in den vergangenen Jahren wesentlich zu Rekordwerten bei Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen in Deutschland beigetragen hat“.
Die Folge wäre nicht nur ein Rückschritt in Sachen Gleichstellung. Auch volkswirtschaftlich könnte die Maßnahme teuer werden: höhere Krankheitsstände, geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen, zusätzliche Belastungen für das Renten- und Gesundheitssystem.
Fragmentierte Arbeitstage – schon jetzt Realität
Dass viele Beschäftigte ihre Arbeit flexibel gestalten, ist längst Alltag. 38 Prozent unterbrechen ihre Arbeit tagsüber, um private Aufgaben zu erledigen, und setzen sie abends nach 19 Uhr fort. Für manche ist das ein pragmatischer Ausgleich zwischen Job und Familie, für andere ein Stressfaktor. „Wir wissen auch aus anderen Studien, dass fragmentierte Arbeitstage und Arbeit am Abend für viele Beschäftigte bestenfalls eine Not- und keine Wunschlösung sind“, sagt Arbeitszeitexpertin Yvonne Lott.
Auch ohne Deregulierung ist also bereits ein Balanceakt nötig, um Familie und Erwerbstätigkeit zu vereinbaren. Eine Aufweichung der Tagesgrenze könnte dieses fragile Gefüge ins Wanken bringen.
Reform statt Abschaffung
Die Autorinnen der Studie schlagen deshalb nicht weniger Schutz, sondern gezielte Reformen vor: mehr Partnermonate beim Elterngeld, bessere Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige und eine Reform der Brückenteilzeit. Vor allem aber brauche es mehr Selbstbestimmung über Dauer, Lage und Ort der Arbeitszeit.
Am Ende geht es nicht nur um Zahlen und Paragrafen. Es geht um das tägliche Leben von Millionen Menschen – und darum, ob Flexibilität ein Versprechen bleibt oder zur Falle wird.
Kurzinfo: WSI-Studie zur Höchstarbeitszeit
- Online-Befragung, Juli 2025, mehr als 2000 Beschäftigte, repräsentativ gewichtet
- 72,5 Prozent fürchten Verschlechterung bei Erholung durch lange Arbeitstage
- 75 Prozent erwarten Einschränkungen bei Familie und Alltag
- Frauen äußern deutlich häufiger Bedenken als Männer
- 12 Prozent arbeiten schon heute an einzelnen Tagen länger als zehn Stunden
- 38 Prozent nehmen Arbeit abends nach Unterbrechungen wieder auf
- Arbeitsmedizin: Unfall- und Krankheitsrisiken steigen ab der achten Stunde deutlich
- Alternative Vorschläge: Reform Brückenteilzeit, bessere Rahmenbedingungen für Sorgearbeit
- Fazit: Präzise Reform statt pauschaler Deregulierung
Originalpublikation:
Yvonne Lott, Eileen Peters:
Lange und fragmentierte Arbeitstage: Verbreitung, Gründe und Auswirkungen.
in: WSI Policy Brief Nr. 92, September 2025.
Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009217
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
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