Die „Frauen des Meeres“ an der südkoreanischen Küste vollbringen beim Freitauchen beeindruckende Leistungen – die zum Teil wohl auch auf eine genetische Anpassung zurückgeführt werden können.
(Bild: Melissa Ilardo/University of Utah)
Sie springen vom Boot, bevor es stoppt. Tauchen Dutzende Male am Tag, oft bis zu 20 Meter tief – ohne Atemgerät. Die Haenyeo, eine schrumpfende Gemeinschaft traditioneller Freitaucherinnen auf der südkoreanischen Insel Jeju, leben seit Generationen mit dem Meer. Jetzt rückt ihre außergewöhnliche Lebensweise ins Zentrum der Wissenschaft: Ein internationales Forschungsteam hat nun genetische Anpassungen bei den Haenyeo entdeckt, die ihnen möglicherweise helfen, Kälte und extremen Wasserdruck zu überstehen.
Gene für den Tauchgang
Zwei genetische Varianten stechen laut der Studie in Cell Reports besonders hervor. Die erste betrifft den Blutdruck. Normalerweise steigt dieser beim Luftanhalten stark an – eine gefährliche Belastung, vor allem während der Schwangerschaft. Doch die Forscher fanden heraus: Haenyeo sind über viermal häufiger Trägerinnen einer Genveränderung, die offenbar hilft, den Blutdruck während des Tauchens zu senken. „Es ist, als hätten sie eine Superkraft“, sagt Diana Aguilar-Gómez, Evolutionsbiologin der University of California und Erstautorin der Studie. Diese Fähigkeit könnte ein evolutionärer Schutz sein – für Mutter und ungeborenes Kind gleichermaßen.
Kälte als täglicher Begleiter
Die zweite Genvariante betrifft die Schmerzempfindlichkeit bei Kälte. Zwar wurde die individuelle Kältetoleranz der Taucherinnen nicht gemessen, doch die Genetik deutet auf eine mögliche Erklärung hin: Die Haenyeo tauchen selbst im Winter, wenn die Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt liegen. „Solange die Windwarnung nicht heult, gehen sie ins Wasser“, sagt Studienleiterin Melissa Ilardo von der University of Utah. Diese Härte ist bewundernswert – und vielleicht auch genetisch gestützt.
Die Kraft lebenslangen Trainings
Doch nicht nur die DNA macht den Unterschied. Jahrzehntelanges Training formt Körper und Reflexe. Beim Eintauchen verlangsamt sich der Herzschlag – ein Effekt, der auch bei Laien messbar ist. Doch bei den Haenyeo fällt der Puls doppelt so stark ab wie bei untrainierten Menschen. Eine lebenslange Anpassung, kombiniert mit genetischem Feintuning: So entsteht das scheinbare „Superpower“-Profil dieser Frauen.
Mehr als ein lokales Phänomen
Die genetischen Veränderungen kommen nicht nur bei Taucherinnen, sondern auch bei anderen Bewohner*innen Jejus vor. Interessant: Die Region verzeichnet eine der niedrigsten Schlaganfallsterblichkeiten Koreas. Könnte der Genpool Schutz bieten? Die Forscher wollen dieser Frage weiter nachgehen – mit der Hoffnung, neue Therapien gegen Bluthochdruck und Schlaganfall zu entwickeln. Was bei den Haenyeo funktioniert, könnte künftig vielen Menschen helfen.
Ein kulturelles Erbe mit medizinischer Zukunft
Die Haenyeo sind mehr als ein anthropologisches Kuriosum. Sie sind Frauen, die Grenzen verschieben – körperlich wie gesellschaftlich. Ihre Geschichte erzählt von Resilienz, von Tradition, von Anpassung. Und nun auch von einer Wissenschaft, die nicht nur beobachtet, sondern lernen will: von einem Leben am Limit.
Kurzinfo: Die „Frauen des Meeres“
Wer sind die Haenyeo?
Die Haenyeo („Frauen des Meeres“) sind eine traditionsreiche Gemeinschaft von Freitaucherinnen auf Jeju Island, Südkorea.
Welche genetischen Besonderheiten wurden entdeckt?
- Blutdruckregulation: Haenyeo tragen häufiger eine Genvariante, die mit niedrigerem Blutdruck beim Luftanhalten assoziiert ist.
- Kälteempfindlichkeit: Eine zweite Genveränderung könnte die Schmerzempfindlichkeit bei Kälte senken.
Welche Rolle spielt Training?
Neben genetischen Faktoren zeigten die Forscher, dass jahrzehntelanges Tauchen die Herzfrequenzreflexe erheblich beeinflusst.
Warum ist das wichtig?
Die Erkenntnisse könnten neue Ansätze zur Behandlung von Bluthochdruck und Schlaganfall bieten. Da bestimmte Genvarianten auf Jeju verbreitet sind und die Region eine ungewöhnlich niedrige Schlaganfallsterblichkeit aufweist, hoffen Forscher, von den Haenyeo medizinisch relevante Mechanismen abzuleiten.
Originalstudie:
Aguilar-Gómez, Diana et al.
Genetic and training adaptations in the Haenyeo divers of Jeju, Korea
Cell Reports, Volume 0, Issue 0, 115577 (2025)
DOI: 10.1016/j.celrep.2025.115577
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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