Die Stärke des Projekts liegt in seiner Vielfalt. Daten aus allen Weltregionen sollen das Modell trainieren. Damit entsteht die bisher umfassendste Datenbasis für eine medizinische KI.(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Mehr als 100 Forschungsgruppen aus 65 Ländern haben sich zusammengeschlossen, um das erste globale medizinische KI-Grundmodell zu entwickeln. Statt inneren Organen wie Herz oder Lunge dient bei dieser Premiere das Auge als Eintrittstor. Genauer: 100 Millionen Netzhautbilder, aufgenommen von Patientinnen und Patienten auf nahezu allen Kontinenten, sollen die Basis für ein Modell schaffen, das Krankheiten präziser erkennt und fairer einsetzt als bisherige Systeme.
Vom Proof-of-Concept zum globalen Projekt
Die Idee hat ihren Ursprung in London: 2023 stellten Forschende von Moorfields Eye Hospital und dem University College London (UCL) mit „RETFound“ erstmals ein Foundation Model vor, das Krankheiten am Auge und im gesamten Körper diagnostizieren kann. Damals stützte sich das Modell auf 1,6 Millionen Netzhautbilder – ein beachtlicher Anfang, aber geografisch eng begrenzt.
Nun kommt die globale Fortsetzung. Unter Leitung der National University of Singapore (NUS Medicine), Moorfields, UCL und der Chinese University of Hong Kong wird RETFound in eine neue Dimension gehoben. „Aktuelle Foundation-Modelle sind geografisch und demografisch zu schmal trainiert. Das kann bestehende Ungleichheiten verschärfen“, erklärt Dr. Yih Chung Tham, einer der Projektleiter.
Datenschatz aus aller Welt
Die Stärke des Projekts liegt in seiner Vielfalt. Daten aus Afrika, Südamerika, dem Nahen Osten, Südostasien, dem Westpazifik und dem Kaukasus sollen das Modell trainieren. Damit entsteht die bisher umfassendste Datenbasis für eine medizinische KI.
Zugleich gilt es, sensible Patientendaten zu schützen. Deshalb wurde ein zweigleisiges Konzept entwickelt. Manche Institutionen verfeinern die KI-Modelle lokal und teilen nur die Gewichtungen – ohne dass Rohdaten den Standort verlassen. Andere Partner, die nicht über eigene Rechenressourcen verfügen, können anonymisierte Daten über sichere Plattformen beisteuern. „Dieser duale Ansatz ermöglicht es allen Gruppen teilzunehmen – unabhängig von Ressourcen“, sagt Pearse Keane, Professor für Artificial Medical Intelligence am UCL.
Faire KI statt blinder Flecken
Die Initiative reagiert auf ein wachsendes Problem: Viele medizinische KI-Systeme sind auf Daten aus westlichen Industrieländern trainiert und liefern bei Patientinnen und Patienten aus anderen Regionen unzuverlässige Ergebnisse. Mit RETFound Global soll sich das ändern.
„Dieses Projekt kann neue internationale Standards für Fairness in der medizinischen KI setzen“, betont Prof. Carol Cheung von der Chinese University of Hong Kong. „Ein global trainiertes Modell wird es Forschenden weltweit erlauben, schneller eigene Werkzeuge zu entwickeln, die besser zu lokalen Bedürfnissen passen.“
Das Konsortium betont: KI soll nicht nur Krankheiten erkennen, sondern auch gerechter eingesetzt werden.
Mehr Krankheiten im Blick
RETFound Global bleibt nicht auf das Auge beschränkt. Neben Augenkrankheiten wie Glaukom oder Makuladegeneration soll das Modell auch systemische Krankheiten erkennen – von Diabetes bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das eröffnet der Medizin neue Diagnosewege.
Alle Daten und Modelle werden frei zugänglich sein, veröffentlicht unter einer Creative-Commons-Lizenz. Damit soll verhindert werden, dass medizinische KI allein in den Händen weniger Konzerne bleibt. „Das Modell wird weltweit frei für nicht-kommerzielle Forschung verfügbar sein“, verspricht Tham.
Ein Bauplan für die Zukunft
Die Augenheilkunde ist dabei nur der Anfang. Die Forschenden hoffen, dass die RETFound-Methodik künftig auch in anderen Fachgebieten eingesetzt wird – von der Onkologie bis zur Kardiologie. Damit könnte die Medizin in den kommenden Jahren einen neuen Standard internationaler Zusammenarbeit erleben.
Kurzinfo: Global RETFound Initiative
- Über 100 Forschungsgruppen aus 65 Ländern beteiligt
- Ziel: erstes globales medizinisches Foundation Model
- Basis: 100 Millionen Netzhautbilder
- Leitung: NUS Medicine, Moorfields NHS, UCL, Chinese University of Hong Kong
- Daten aus allen Kontinenten außer Antarktika
- Zwei Ansätze: lokales Training oder sichere Datenfreigabe
- Krankheiten: von Augenleiden bis Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Veröffentlichung unter Creative-Commons-Lizenz
- Fokus: Fairness, Vielfalt, Zugang für alle
Originalpublikation:
Yih Chung Tham et al.,
Building the world’s first truly global medical foundation model
In: Nature Medicine (8-Sep-2025 )
DOI 10.1038/s41591-025-03859-5//
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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