Mit historischen Luftaufnahmen aus der Antarktis den Meeresspiegel-Anstieg besser verstehen

Mit historischen Luftaufnahmen aus der Antarktis den Meeresspiegel-Anstieg besser verstehen

Historische Daten zu den antarktischen Eisflächen sind rar – dänische Forschende haben nun einen solchen Schatz gehoben, dessen Aufnahmen bis in die 1960 Jahre zurückgehen (Bild rechts: 1966). Das hilft, die Abschmelzprozesse etwa des Wordie-Schelfeises bis heute (Bild links: 2022) besser vorherzusagen.

(Bild: Mads Dømgaard)


Die Kamera klickt, die Propeller brummen – und niemand an Bord der Maschine weiß, dass dieses Foto einmal Teil einer globalen Klimageschichte werden würde. Es ist der 28. November 1966, als ein US-amerikanisches Flugzeug über der antarktischen Wordie-Eisschelfe kreist. An Bord: ein Fotograf, vermutlich vom US-Militär, der die Gletscherlandschaft dokumentiert. Was er festhält, ist der Beginn eines dramatischen Umbruchs – ein Eisschild, der ins Meer zu rutschen beginnt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später geraten die vergilbten Bilder wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Kopenhagen hat sie mit modernster Technik ausgewertet – und dabei eine neue Methode zur Vorhersage des Meeresspiegelanstiegs entwickelt.

Ein Archiv erwacht zum Leben

Die historischen Fotos aus den Sechzigerjahren wurden mit sogenannter Structure-from-Motion-Photogrammetrie ausgewertet – einer Methode, bei der aus überlappenden Luftbildern dreidimensionale Modelle entstehen. Damit ließ sich exakt nachvollziehen, wie sich Ausdehnung, Dicke und Fließgeschwindigkeit der Wordie-Eisschelfe über Jahrzehnte hinweg verändert haben.

Was die Forschenden fanden, widerspricht gängigen Annahmen. Lange galt es als gesichert, dass Oberflächenwasser und steigende Lufttemperaturen zum Kollaps von Eisschelfen führen. Doch die Studie zeigt: Nicht die Luft, sondern das Meer war der entscheidende Faktor.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Hauptursache für den Zerfall der Wordie-Eisschelfe steigende Meerestemperaturen waren – sie führten zu verstärktem Schmelzen an der Unterseite des Eises“, sagt Mads Dømgaard, Leitautor der Studie.

Weltweit wirksam – trotz lokaler Entfernung

Was bedeutet das für den globalen Meeresspiegel? Zunächst wenig, denn die Wordie-Schelfe war vergleichsweise klein – der Anstieg lässt sich in Millimetern messen. Doch es gibt größere Eisschelfen, etwa die Ronne- oder Ross-Schelfe. Würden sie kollabieren, könnte der Meeresspiegel weltweit um mehrere Meter steigen.

Und dieser Anstieg macht vor Europa nicht halt. Denn obwohl die Antarktis geografisch weit entfernt ist, hat ihr Schmelzwasser aufgrund gravitativer Effekte direkten Einfluss auf den Norden. Solange das Eis gebunden ist, zieht seine Masse das Meerwasser südwärts. Schmilzt es, kehrt sich dieser Effekt um – und Küsten in Ländern wie Dänemark oder Deutschland sind stärker betroffen.

Ein Werkzeug für die Zukunft

Was die neue Methode so wertvoll macht, ist nicht nur die Erkenntnis über die Ursache des Kollapses, sondern ihr Nutzen für künftige Prognosen.
Wir haben mehrere Frühwarnzeichen für einen beginnenden Kollaps identifiziert und können durch sogenannte Pinning Points den Fortschritt eines solchen Prozesses besser beurteilen“, sagt Dømgaard.
Das ist ein völlig neues Instrument, um Realitätstests bei gefährdeten Eisschelfen durchzuführen.

Durch die Verbindung historischer Aufnahmen mit aktuellen Satellitendaten konnten die Forschenden erstmals ein kontinuierliches Zeitbild des Eisschelfkollapses zeichnen – ein Meilenstein für die Klimaforschung.

Langsamer als gedacht – aber schwer aufzuhalten

Die Studie bringt allerdings auch eine ambivalente Nachricht mit sich: Das Abschmelzen geht womöglich langsamer voran als bisher vermutet.
Unsere Daten deuten darauf hin, dass der Kollapsprozess sich über längere Zeiträume zieht – die Gefahr eines sehr schnellen, katastrophalen Meeresspiegelanstiegs ist demnach etwas geringer“, sagt Anders Anker Bjørk, Koautor der Studie.

Doch darin liegt auch ein Risiko.
Der Prozess ist träger, als wir dachten. Das macht ihn aber auch schwerer aufzuhalten, wenn er erst einmal begonnen hat“, so Bjørk. „Das ist ein klares Signal, die Emissionen jetzt zu stoppen – nicht irgendwann später.

Vergangenheit als Warnsystem

Die Erkenntnisse aus alten Fotos liefern der Wissenschaft also einen neuen Kompass für den Blick in die Zukunft. Was einst unscheinbar wirkte, wird zum Frühwarnsystem – und gibt Hoffnung, dass vorausschauende Politik und gezielte Anpassungsmaßnahmen noch möglich sind.


Kurzinfo: Alte Bilder, neue Erkenntnisse

– Forschungsprojekt der Uni Kopenhagen, publiziert in Nature Communications (April 2025)
– Basis: Luftbilder der Wordie-Eisschelfe von 1966–1969
– Analyse mit Structure-from-Motion-Photogrammetrie
– Ergebnis: Hauptursache für den Kollaps war Schmelzen unter dem Eis durch warmes Meerwasser
– Frühwarnzeichen („Pinning Points“) helfen bei Risikobewertung anderer Eisschelfen
– Auswirkungen global: auch Nordhalbkugel durch Gravitationsverschiebung betroffen
– Eisschelfen bremsen Gletscherfluss – ihr Verlust beschleunigt Meeresspiegelanstieg
– Prozess langsamer, aber schwerer umkehrbar
– Appell der Forschenden: Klimaschutz jetzt – nicht später


Originalpublikation:
Mads Dømgaard et al.,
„Half a century of dynamic instability following the ocean-driven break-up of Wordie Ice Shelf“
in: Nature Communications (29-Apr-2025 )
DOI: 10.1038/s41467-025-59293-1//

Über den Autor / die Autorin

Arty Winner
Arty Winner
Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Proudly powered by WordPress