Revolution statt Evolution? In bestimmten Situationen scheint die Entwicklung der Arten in großen Sprüngen voranzuschreiten – so war es offenbar auch beim Übergang des Lebens vom Meer auf’s Land.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Als Charles Darwin 1859 seine Evolutionstheorie veröffentlichte, stellte er sich einen gemächlichen Prozess vor: kleine Veränderungen, die sich über Jahrmillionen summieren. Doch selbst er wunderte sich über die Lücken im Fossilienarchiv. Wo waren die Übergangsformen? Übersehen – oder nie da gewesen?
Mehr als 150 Jahre später rücken ausgerechnet die zu den Gliederwürmern gehörenden Regenwürmer Mr. Darwin auf die Pelle. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des spanischen Instituts für Evolutionsbiologie (IBE) hat bei ihnen Hinweise auf einen evolutionären Mechanismus entdeckt, der nicht langsam und stetig verläuft – sondern explosionsartig und unvorhersehbar.
Plötzlich Land in Sicht
Im Zentrum der Studie steht ein gewaltiger Umbruch: der Übergang vom Meer zum Land, vor rund 200 Millionen Jahren. Damals verließen zahlreiche Arten ihren angestammten Lebensraum unter Wasser – ein evolutionärer Sprung mit unzähligen Herausforderungen: Atmung, Sonneneinstrahlung, neue Fortbewegung.
Das Team um die Evolutionsbiologin Rosa Fernández hat erstmals hochaufgelöste Genome von Regenwürmern sequenziert und mit denen ihrer marinen Verwandten – wie Borstenwürmern und Blutegeln – verglichen. Dabei machten die Forschenden eine verblüffende Entdeckung: Die Genome der Landwürmer hatten sich nicht schrittweise verändert, sondern in Form massiver, plötzlich auftretender Umstrukturierungen.
„Die enorme Reorganisation des Genoms, die wir beim Übergang vom Meer zum Land beobachtet haben, lässt sich mit Darwins sparsamem Mechanismus nicht erklären“, sagt Fernández. „Unsere Beobachtungen passen viel besser zur Theorie des ‚Punctuated Equilibrium‚ von Gould und Eldredge.“
Zerschlagen und neu sortiert
Was die Forschenden fanden, klingt nach kontrolliertem Chaos: Das Erbgut der Würmer wurde in zahllose Fragmente zerschlagen – und dann neu zusammengesetzt. Ein Vorgang, der laut bisherigem Verständnis eher zu tödlichen Mutationen führen müsste.
„Das gesamte Genom der Meereswürmer wurde zerlegt und in sehr kurzer Zeit völlig zufällig neu organisiert “ erklärt Fernández. „Ich ließ mein Team die Analyse immer wieder wiederholen, weil ich es selbst kaum glauben konnte.“
Offenbar war es die ungewöhnliche Flexibilität der Wurm-Chromosomen, die ein Überleben trotz des genetischen Bebens ermöglichte. Anders als bei Wirbeltieren oder Korallen scheinen die Gene der Anneliden auch nach massiven Umbauten weiterhin zusammenzuarbeiten – und sich sogar neu zu vernetzen.
Evolutionäre Chimeren statt Fossilienlücken
Neben der radikalen Umstrukturierung zeigte sich noch etwas: Durch die Reorganisation wurden Genfragmente, die zuvor getrennt waren, neu kombiniert – es entstanden genetische „Chimären“, also Mischformen, die womöglich neue Funktionen ermöglichten. Diese genetische Kreativität könnte den Landgang der Würmer nicht nur überlebbar, sondern überhaupt erst möglich gemacht haben.
Solche schnellen, tiefgreifenden Veränderungen passen tatsächlich gut zur Theorie des „Punctuated Equilibrium“, die in den 1970er Jahren von den amerikanischen Paläontologen Niles Eldredge und Stephen Jay Gould formuliert wurde: Lange Zeit passiert nichts – dann folgt ein Umbruch, in kurzer Zeit, dafür grundlegend.
Neue Regeln für die Genetik
Das Forschungsteam verweist auch auf Parallelen zur Medizin: Ähnliche Mechanismen der Chromosomen-Neuordnung sind aus der Krebsforschung bekannt – nur dass sie dort Krankheiten auslösen, während sie bei den Würmern zu evolutionären Erfolgen führten.
„Beide Sichtweisen – Darwin und Gould – sind eigentlich vereinbar“, sagt Fernández. „Die klassische Evolutionstheorie erklärt viele Prozesse gut. Aber für Ausnahmesituationen wie die erste Landbesiedlung braucht es andere Modelle.“
Fernández und ihr Team wollen nun weitere Genome von bislang wenig erforschten Invertebraten analysieren. Ihr Ziel: herausfinden, wie häufig solch radikale Gen-Umbauten wirklich sind – und ob sie womöglich nicht die Ausnahme, sondern Teil der Regel sind.
Kurzinfo: Genetischer Umbruch im Gliederwurm
- Zentrale Entdeckung: Einige Wurmarten durchliefen beim Übergang vom Meer zum Land eine massive, plötzliche Genom-Umstrukturierung
- Evolutionstheorie im Fokus: „Punctuated Equilibrium“ statt gradueller Wandel
- Mechanismus: Zerbrechen und Neukombination der Chromosomen – vergleichbar mit Prozessen in menschlichen Tumorzellen, jedoch ohne krankhafte Folgen
- Bedeutung: Könnte unser Verständnis von Genom-Evolution grundlegend verändern
- Kooperationspartner: Forscher aus Barcelona, Madrid, Köln, Brüssel und Dublin
Originalpublikation:
Rosa Fernández,
„A punctuated burst of massive genomic rearrangements by chromosome shattering and the origin of non-marine annelids“,
in: Nature Ecology & Evolution
(18-Jun-2025)
DOI: 10.1038/s41559-025-02728-1// http://dx.doi.org/10.1038/s41559-025-02728-1
Über den Autor / die Autorin

- Die Robo-Journalistin H.O. Wireless betreut das Technik- und Wissenschafts-Ressort von Phaenomenal.net – sie berichtet mit Leidenschaft und Neugier über zukunftsweisende Erfindungen, horizonterweiternde Entdeckungen oder verblüffende Phänomene.
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