Hochgerechnet auf alle unbeschränkten Abschnitte ergäbe sich ein eindrucksvolles Bild: 53 tödliche Unfälle mit 58 Toten weniger pro Jahr, dazu fast 900 Schwerverletzte und über 1.300 Leichtverletzte, die vermieden würden.
(Bild: Redaktion/PiPaPu)
Zu diesem Beitrag gibt es auch einen Podcast.
Rasen als Freiheit oder Risiko? Kaum ein Thema spaltet Deutschland so sehr wie das Tempolimit. Während die einen den freien Fuß aufs Gaspedal als kulturelles Erbe betrachten, warnen andere seit Jahrzehnten vor den Gefahren unbegrenzter Geschwindigkeit. Nun bringt eine neue Untersuchung frischen Zündstoff in die Debatte: Tempo 120 könnte die Zahl tödlicher Unfälle auf deutschen Autobahnen um mehr als ein Drittel senken.
Frische Daten nach 50 Jahren Stillstand
Die letzte große Studie zu Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück. In den 1970er-Jahren wurde getestet, welchen Unterschied Tempo 130 macht. Seitdem haben sich Autos, Straßenbau und Verkehrsfluss drastisch verändert – und trotzdem fehlten aktuelle Zahlen.
Das ändert nun die Ökonomin Maike Metz-Peeters von der Ruhr-Universität Bochum. Sie hat einen umfassenden Datensatz erstellt, der rund die Hälfte des deutschen Autobahnnetzes für die Jahre 2017 bis 2019 abdeckt. Abschnitte von jeweils 500 Metern wurden mit Faktoren wie Straßenzustand, Verkehrsaufkommen oder Wetter verknüpft. „Eine vergleichbare Datenbasis gab es bisher nicht“, erklärt Metz-Peeters.
Künstliche Intelligenz im Dienste der Verkehrssicherheit
Untersucht wurde der Datensatz mit sogenannten „Causal Forests“ – einem modernen Verfahren des maschinellen Lernens, das Ursache-Wirkungs-Beziehungen besser sichtbar macht. „Vereinfacht gesagt sucht der Algorithmus Straßenabschnitte, die sich sehr ähnlich sind und sich nur darin unterscheiden, ob sie ein Tempolimit haben oder nicht“, erläutert die Forscherin.
Das Ergebnis: Auf Abschnitten mit Tempo 120 gab es im Vergleich 9 Prozent weniger Unfälle mit Leichtverletzten, 26 Prozent weniger mit Schwerverletzten und sogar 35 Prozent weniger tödliche Unfälle. „Unsere Schätzungen sind konservativ angesetzt – die tatsächlichen Effekte könnten noch größer sein“, sagt Metz-Peeters.
Besonders wirksam auf wenig befahrenen Strecken
Überraschend war, dass Tempolimits nicht nur auf stark frequentierten Strecken Wirkung zeigten. Vor allem auf weniger befahrenen Autobahnabschnitten sinkt das Risiko, da hier große Geschwindigkeitsunterschiede auftreten. Während Stoßzeiten dagegen spielt die Begrenzung eine geringere Rolle, weil Staus ohnehin verhindern, dass Autos weit über 120 hinaus beschleunigen.
Metz-Peeters widerspricht damit Empfehlungen, Tempo 120 nur flexibel einzusetzen: „Gerade in Zeiten mit geringerem Verkehrsaufkommen entfaltet das Limit seine Wirkung.“ Auch Ein- und Ausfahrten zählen zu den besonders heiklen Zonen, in denen Geschwindigkeitsbegrenzungen helfen.
Menschenleben und Millionen sparen
Hochgerechnet auf alle unbeschränkten Abschnitte ergäbe sich ein eindrucksvolles Bild: 53 tödliche Unfälle mit 58 Toten weniger pro Jahr, dazu fast 900 Schwerverletzte und über 1.300 Leichtverletzte, die vermieden würden. Der volkswirtschaftliche Nutzen liegt bei etwa 216 Millionen Euro jährlich.
Doch die Forscherin warnt vor vorschnellen Schlüssen: „Ob sich die Ergebnisse eins zu eins auf ein generelles Tempolimit übertragen lassen, bleibt offen. Fahrgewohnheiten könnten sich ändern – im Positiven wie im Negativen.“ Möglich sei, dass Unfallzahlen stärker sinken, wenn das Limit überall gilt. Genauso denkbar sei aber, dass die Wirkung nachlässt, weil Tempolimits nicht mehr gezielt gefährliche Stellen markieren.
Politischer Zankapfel bleibt bestehen
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache – und doch dürfte die Debatte weitergehen. Für Befürworter liefert die Studie ein schlagkräftiges Argument: weniger Tote, weniger Verletzte, weniger Kosten. Gegner hingegen werden einwenden, dass es sich um Modellrechnungen handelt, die nicht alle Faktoren abbilden können.
Fest steht: Deutschland ist das einzige große Land Europas ohne generelles Tempolimit. Die neue Analyse bringt damit nicht nur frische Fakten, sondern auch eine Frage zurück auf die politische Tagesordnung: Sind wir für mehr Sicherheit bereit, auf ein Stück Freiheit zu verzichten?
Kurzinfo: Weniger Verkehrstote durch Tempo 120
- Studie von Maike Metz-Peeters, Ruhr-Universität Bochum
- Erstmals neue belastbare Daten seit den 1970er-Jahren
- Datensatz deckt rund die Hälfte des Autobahnnetzes ab (2017–2019)
- Methodik: Kausales Machine Learning (Causal Forests)
- Ergebnisse: 9 Prozent weniger Unfälle mit Leichtverletzten
- 26 Prozent weniger Unfälle mit Schwerverletzten
- 35 Prozent weniger tödliche Unfälle bei Tempo 120
- Besonders wirksam auf wenig befahrenen Strecken und an Ein-/Ausfahrten
- Jährlich 216 Millionen Euro geringere Unfallkosten
- Publiziert in Transportation Research Part A am 5. August 2025
Originalpublikation:
Maike Metz-Peeters:
Mandatory speed limits and crash frequency on motorways — A causal machine learning approach, in: Transportation Research Part A: Policy and Practice, 2025
DOI: 10.1016/j.tra.2025.104616
Über den Autor / die Autorin

- Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.
Letzte Beiträge
Umweltschutz23. September 2025Neue Studie: Tempo 120 könnte Zahl der Verkehrstoten deutlich senken
Klimawandel23. September 2025Trauriger Rekord: Über 62.700 Hitzetote in Europa 2024
Klimawandel22. September 2025Eis löst Eisen: Neue Studie erklärt rostrote Flüsse in der tauenden Arktis
Ernährung19. September 2025Pflanzenkost für Mensch und Erde – wie eine nachhaltige Ernährung Gesundheit und Klima schützt
Schreibe einen Kommentar