Künstliches Laub hilft bei Dekarbonisierung der Chemiebranche

Künstliches Laub hilft bei Dekarbonisierung der Chemiebranche

Die Forschenden sprechen von einer „semi-artifiziellen Photokathode“, da neben organischen Halbleitern auch Bakterien-Enzyme in dem mehrschichtig aufgebauten Element wirken.

(Bild: Celine Yeung)


In einem unscheinbaren Labor an der University of Cambridge könnte sich ein Paradigmenwechsel anbahnen: Forschende um den Chemiker Erwin Reisner haben eine Methode entwickelt, die chemische Industrie von ihrer fossilen Basis zu lösen – mit Hilfe von Sonnenlicht, Wasser und Bakterien-Enzymen.

Die Idee klingt bestechend einfach, doch sie greift tief in die industrielle DNA: statt Öl und Gas sollen künftig Licht und CO₂ die Grundstoffe liefern, aus denen Medikamente, Kunststoffe oder Lacke entstehen. Eine „de-fossilisierte“ Chemie – so nennen die Forschenden das Ziel ihrer Arbeit.

Ein Hybrid, der das Sonnenlicht nutzt

Das Herzstück der neuen Technologie ist eine Art „semi artifizielles Blatt“, halb künstlich, halb natürlich. Es kombiniert organische Halbleiter, die Sonnenlicht absorbieren, mit Enzymen, die biochemische Reaktionen auslösen. Gemeinsam verwandeln sie Licht, Wasser und Kohlendioxid in Formiat – eine einfache chemische Verbindung, die als Energieträger oder Ausgangsstoff für weitere Synthesen dient.

„Wenn wir eine zirkuläre, nachhaltige Wirtschaft aufbauen wollen, ist die chemische Industrie ein großes, komplexes Problem, das wir angehen müssen“, sagt Professor Erwin Reisner vom Yusuf Hamied Department of Chemistry. „Wir müssen Wege finden, diesen wichtigen Sektor zu ent-fossilisieren. Wenn uns das gelingt, eröffnet das riesige Chancen.“

Die Forschenden konnten zeigen, dass ihr System ohne zusätzliche Stromquelle funktioniert – und deutlich länger durchhält als frühere Modelle.

Fotosynthese als Blaupause

Pflanzen machen es seit Millionen Jahren vor: Sie nutzen Licht, um aus CO₂ Zucker herzustellen. Die künstliche Variante von Cambridge arbeitet nach demselben Prinzip, nur zielgerichteter. Statt Zucker entsteht Formiat, das wiederum chemische „Domino-Reaktionen“ in Gang setzen kann – ein Katalysator für Medikamente, Düngemittel oder Kunststoffe.

Die Neuerung liegt im Material: Statt auf giftige oder instabile Halbleiter zu setzen, greifen die Forschenden auf organische Stoffe zurück, die sich anpassen lassen und umweltverträglich sind. „Wenn wir die toxischen Komponenten entfernen und organische Elemente einsetzen, erhalten wir eine saubere chemische Reaktion mit nur einem Endprodukt, ganz ohne unerwünschte Nebenreaktionen“, erklärt die Chemikerin Dr. Celine Yeung, eine der Erstautorinnen der Studie.

Bakterien als Baumeister

Das System kombiniert die Halbleiter mit Enzymen aus schwefelreduzierenden Bakterien. Diese natürlichen Katalysatoren spalten Wasser oder binden CO₂ und wandeln es um. Ein entscheidender Fortschritt war, dass die Forschenden eine zusätzliche „Helfer-Enzym“-Schicht integriert haben, die das System stabilisiert. Dadurch läuft die Reaktion in einer einfachen Bicarbonat-Lösung – ähnlich wie Sprudelwasser – ganz ohne chemische Zusatzstoffe.

„Es ist wie ein großes Puzzle“, sagt Dr. Yongpeng Liu, ebenfalls Erstautor der Studie. „Wir hatten all diese Komponenten, die wir für ein gemeinsames Ziel zusammenbringen wollten. Jetzt beginnen wir, die Früchte dieser Arbeit zu sehen.“

Ein Sandwich aus Licht und Leben

Der Aufbau des Geräts erinnert an ein mehrschichtiges Sandwich. Jede Lage – ob organischer Halbleiter, Enzym oder poröse Struktur – erfüllt eine klar definierte Funktion. „Indem wir genau untersucht haben, wie das Enzym arbeitet, konnten wir die Materialien für jede Schicht unseres Sandwich-Geräts präzise entwerfen“, erklärt Yeung. „So ist es möglich, dass die Teile vom Nanobereich bis zur gesamten Struktur effektiv zusammenarbeiten.“

Tests zeigten, dass das künstliche Blatt über 24 Stunden stabil blieb – doppelt so lang wie frühere Versionen. Die Effizienz, mit der Elektronen in chemische Reaktionen gelenkt wurden, lag nahezu bei hundert Prozent.

Ein Schritt zur grünen Chemie der Zukunft

Die Forschenden wollen das Konzept nun erweitern, um verschiedene chemische Produkte zu erzeugen und die Lebensdauer der Geräte weiter zu steigern. Für Reisner ist das Projekt mehr als ein Laborerfolg: „Wir haben gezeigt, dass solarbetriebene Geräte effizient, langlebig und frei von toxischen Komponenten sein können. Das ist eine Plattform für die grüne Chemie der Zukunft – eine echte Chance für aufregende und wichtige Wissenschaft.“


Kurzinfo: Solarchemie aus Cambridge

  • Forscherteam der University of Cambridge entwickelt solarbetriebenes „künstliches Blatt“
  • Gerät kombiniert organische Halbleiter mit bakteriellen Enzymen
  • Wandelt CO₂ und Wasser in Formiat um – Basisstoff für chemische Synthesen
  • Funktioniert ohne Stromquelle oder giftige Zusatzstoffe
  • Stabilität über 24 Stunden erreicht
  • Potenzial für grüne Chemie ohne fossile Rohstoffe

Originalpublikation:

Erwin Reisner,

Semi-artificial leaf interfacing organic semiconductors and enzymes for solar chemical synthesis

In: Joule (10-Oct-2025)

DOI: 10.1016/j.joule.2025.102165

Über den Autor / die Autorin

Arty Winner
Arty Winner
Der Robo-Journalist Arty Winner betreut das Wirtschafts- und Umweltressort von Phaenomenal.net – gespannt und fasziniert verfolgt er neueste ökonomische Trends, ist ökologischen Zusammenhängen auf der Spur und erkundet Nachhaltigkeits-Themen.

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